Mittwoch, 21. Dezember 2011

Vorwort


Dieses Buch ist eine Erinnerung  über die letzten Lebenswochen unseres Vaters. Es soll helfen, das Erlebte unvergessen werden zu lassen sowie davon erzählen, wie nahe Hoffnung, Freude, Leid, Qual und Trauer beieinander liegen. An so manchem Morgen fragte er, ob er schon in der BILD ist. Sicher hat er gespürt, dass ich das alles aufschreibe. Und vielleicht sollte es auch eine Ermutigung für uns sein, unser Erlebtes anderen Menschen zugänglich zu sein. Vielleicht war das aber auch sein Verlangen danach, einfach mal wieder diese Zeitung aufzuschlagen und darin zu lesen. Keiner weiß das so genau. Und ich könnte mich darin verlieren, weitere Vermutungen über den Grund seiner Frage anzustellen.
Das erste Buch, dass in der Form eines Tagebuches geschrieben war wurde für den Familiengebrauch gedruckt. Und damit hatten die Erzählungen ihren Platz gefunden. Geschützt in unseren Händen haben wir die Seiten geblättert, darin gelesen, Momente und Erinnerungen wieder gefunden, dabei gelacht und geweint. Sind an Bildern verloren gegangen in unseren Seelen.
Wir erinnern uns so oft daran, wie der Schmerz, die Hilflosigkeit und die Traurigkeit unseren Alltag bestimmten, während wir mit ansehen mussten, wie unser Vater sich quälte und seinen letzten Kampf kämpfte. Ein Ringen von der Familie loszulassen und ein Hadern dem Tod entgegenzugehen. Und wenn wir uns heute erinnern stellen wir uns Fragen über das Warum und Wie viel unser Vater wirklich wusste. Im Prinzip ist es heute nicht anders als im Oktober letzten Jahres. Im Austausch über diese Frage realisierten wir schnell, wie wenig Sinn diese Suche machte. War es doch nur der Versuch, die Trauer zu überwinden und den Schmerz nicht zu spüren. Zum Glück waren wir eine lange Zeit zusammen gewesen, und konnten viel reden, das Erlebte verarbeiten und uns irgendwie auch ein Stück weit auf das Danach vorbereiten. So wissen wir alle ziemlich gut, was Sinn macht und was nicht. Und trotzdem lässt sich das Hirn darauf nicht so einfach ein. Dazu sind wir zu tief eingestrickt in die Muster des Denkens und unseren Gewohnheiten.
Wir können dankbar sein, dass Vati noch so viele Lebensjahre geschenkt bekommen hatte. Denn jede einzelne Krebsdiagnose hätte auch das Ende bedeuten können.

Diagnosen
Vor 28 Jahren,1992, wurde unser Vater erstmalig mit einem Krebs diagnostiziert, Nierenkrebs mit der Folge, dass eine Niere operativ entnommen werden musste. Chemotherapie oder Bestrahlungstherapien mussten nicht angewendet werden. Nach der OP und Reha erholte sich er sich sehr gut. Das war Nummer eins. Im Verlauf der Jahre leidete er unter chronischer Niereninsuffizienz und wurde regelmäßig untersucht und medikamentös behandelt.
12 Jahre später kam dann die zweite Diagnose. Lungenkrebs, ein Plattenepithelkarzinom, welches operativ entfernt werden konnte. Entsetzt über diese Diagnose und in Sorge, dass der Krebs weitere negative Auswirkungen haben könnte, fand er dennoch einen guten Weg des Umgangs damit. Ein weiterer Warnschuss, dessen Kugel zum Glück ihr Ziel verfehlt hatte.
So kam eines zum anderen Weitere Diagnosen, zwar kein Krebs, aber doch irgendwie belastend kamen über die Jahre hinzu. Obstruktives Schlafapnoe Syndrom, chronischer Bluthochdruck und schmerzhafte Gichtanfällen bestimmten die Zeiten zwischen den großen und beunruhigenden Diagnosen.
Nach 28 Jahren dann der Befund, der das Kapitel gewonnener Zeiten und diverser Krankheiten mit einem kleinzelligem Bronchialkarzinom beendete. Chemotherapie und Strahlentherapie hätten ihm ein bisschen Zeit und Leben zu schenken können. Doch unter welchen Bedingungen hätte er Zeit gewonnen? Ein Tag, eine Woche, einen Monat? Es bestand keine Sicht auf Heilung und die genannten Therapien hätten Qualen bedeutet und das Leben nicht lebenswerter gemacht. Das war uns allen klar; vor allem aber unserem Vater.
Ohne Wertung bzw. Bewertung oder besser, Anklage, muss ich dennoch erwähnen, dass er das Schicksal heraus gefordert hatte. Als starker Raucher war es ihm nicht möglich, dass Rauchen aufzugeben. Diese Sucht sollte ihm letztendlich sein Leben gekostet hatten. Er hatte ungefähr 50 Jahre geraucht, pro Tag eine Schachtel. In der Summe habe eine halbe Million Zigaretten haben ihm das Leben gekostet. Er hat es genossen, wohl wissend um die Risken.
Also nach dieser Diagnose ging alles recht schnell. Ich war immer noch in Perth und hoffte täglich auf gute Nachrichten. Doch diese ließen auf sich warten. Stattdessen, vorgekommen, wie im Minutentakt, kamen die beunruhigenden und traurigen Nachrichten.
Unser Vater wurde am 29. September im Rostocker Klinikum aufgenommen, um dem Wasser in seinem Körper Herr zu werden, aber auch um weitere Untersuchungen durchzuführen. Auf einer weiteren CT Aufnahme wurden dann doch fein-diagnostisch gewebliche Veränderungen diagnostiziert.
Da das Wasser im Körper weiter zunahm, hatte man in der Rostocker Klinik entschieden, weitere Untersuchungen zu veranlassen und Papsi wurde auf Station aufgenommen. Der gesundheitliche Zustand unseres Vaters verschlechterte sich dramatisch und täglich.
Es war bereits Mitternacht. Unter Tränen berichtete Gerlind, dass der behandelnde Stationsarzt Krebs im Endstadium vermutete und sie skizzierte das worst case Szenario. Der Arzt hatte mehre Vermutungen und erwähnte zu diesem Zeitpunkt bereits, dass es sich um einen aggressiven Tumor handeln könnte, und wenn dies nachgewiesen würde, dann gäbe es kaum Hoffnung auf Heilung.
Nun hielt mich nichts mehr in Perth und ich bin flog nach Deutschland, um meinen Vater zu sehen und bei ihm zu sein. Als ich ihn in seinem Zimmer begrüßte, sagte er unter Tränen, dass er doch noch nicht stirbt. Wir alle hatten mit einer solchen Reaktion gerechnet, waren dennoch über seine Äußerungen zutiefst betroffen. Ich war froh, endlich bei meiner Familie zu sein.
Nach all den weiteren Untersuchungen, schlechten Werten und unguten Nachrichten haben wir mit Vati erst einmal seinen 68. Geburtstag am 6. Oktober in der Klinik gefeiert. Für uns war das eine Gelegenheit und Hoffnung, ihn ein bisschen aufzumuntern, und aus seiner Welt im Nebel seiner Ängste und Gedanken heraus zu holen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon kein Interesse mehr an Geschenken, Blumen, Karten oder anderen Aufmerksamkeiten. Er wollte das alles nicht mehr sehen und lesen. Er hatte sich bereits in seiner Persönlichkeit und seinem Wesen verändert, manchmal reagierte er verzögert im Gespräch; er wiederholte Fragen oder Aussagen.
Um so größer waren der Aufwand und die Vorbereitungen auf seinen Geburtstag. Ganz im Hintergrund der Gedanken gab es wohl auch die Sorge, dass dieser Geburtstag sein letzter sein könnte.
Sogar Tante Helga hatte extra einen Mohnkuchen gebacken, den wir mit Vati im Krankenhaus gemeinsam essen konnten. Die ganze Familie war nach und nach angerückt. Ralf kam am Abend und brachte noch einen Playboy zur Aufmunterung sowie eine Schachtel Zigaretten mit. Das Magazin interessierte Vati nicht, wohl aber die Zigaretten.
Einen Tag später rief Papsi am Morgen an und bat uns, ihm noch einmal ein Stück Kuchen mitzubringen. Als Gerlind und ich am Nachmittag bei ihm drei Stückchen auspackten, sagte er, dass er doch nur eines wollte. Wir waren etwas perplex, da es ihm nicht in den Sinn gekommen war, dass die beiden anderen Stücke für uns waren. Dies war ein weiteres Beispiel seines Rückzugs und der immer mehr verlorenen Verbindung zu uns.
Bei unseren täglichen Besuchen haben wir Vati beim Spazieren­gehen begleitet und ihm beim Rauchen zugesehen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns bereits einig, ihn nicht mehr vom Rauchen abzuhalten; es würde keine Verbesserung bewirken. Beim Abendessen sahen wir ihm zu, wie er am Fenster saß, brav und schnell seine drei Brote vertilgte und dabei vollkommen auf sich konzentriert war. Er wirkte dabei häufig getrieben, als ob Jemand hinter ihm stand und er Angst hatte, dass ihm das Essen weggenommen werden würde. Begleitet waren diese Essenssituationen auch von eigenartigen und unverständlichen Aktionen. So faltete er beispielsweise alles noch so kleine Papier sorgfältig zusammen und legte es von der einen auf die andere Seite.
Er hielt sich tapfer, war aber immer mehr in seiner eigenen Welt verhaftet. Er war vollkommen auf sich selbst konzentriert, und es schmerzte, mit anzusehen, wie er sich unserer Mutter gegenüber im Umgang veränderte. Er wartete nicht auf sie, wenn es zum Spazieren ging, er lief einfach los. Er sprach kaum mit ihr in unserer Anwesenheit. Er sprach mit ihr, wenn beide alleine waren. Ein wenig Trost. Am Ende unserer Besuche waren wir alle erschöpft und äußerst besorgt über sein Verhalten und auch in Anspannung gegenüber der noch ausstehenden endgültigen Diagnose.

In den eigenen vier Wänden
Dann am 8. Oktober wurde unser Vater aus dem Klinikum entlassen. Mit Spannung warteten wir auf die Entlassungsdiagnose. Und dann kam der Arzt ins Zimmer und erläuterte den Befund. Er war sehr einfühlsam und ehrlich. Ein unter Vier Augen Gespräch mit dem Arzt hinsichtlich Therapiechancen etc. förderte die Klarheit zutage, dass es nichts mehr gab, was helfen konnte. Metastasen unter dem Schlüsselbein und der Achsel sowie an der Lunge waren bereits vorhanden. Die Diagnose, kleinzelliges Bronchialkarzinom stand fest. Ein aggressives schnell wachsendes Karzinom, das nicht operiert werden konnte.
So fuhren wir gemeinsam nach Hause; jeder in seinen Gedanken, Ängsten und Sorgen verhaftet. Vati erzählte noch, wie der Arzt seinen Mut gelobt hatte. Er war stolz darauf. Was ihn im Inneren beschäftigte, konnten wir nur vermuten. Unser Vater sprach darüber sehr wenig, er weinte nicht, äußerte keine Ängste und Sorgen. In Erinnerung bleibt sein erster Satz, als wir, Mutti und ich, ihn an diesem Tag aus dem Klinikum abholten ‚Ich sterbe noch nicht!’
Kurzatmig, kleinschrittig, manchmal verwirrt, und in seiner Welt, kehrte unser Vater nach Hause. Ich war bereits bei meinen Eltern in die Wohnung gezogen, um da zu sein und Zeit mit ihnen zu verbringen bis ich nach geplanten zwei Wochen wieder nach Perth zurück fliegen wollte. Nach einer Woche, kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, dachte ich bereits über eine Verlängerung meines Aufenthalts nach, wollte aber noch abwarten, wie sich alles entwickeln würde. Der Termin bei der Onkologie und das MRT sollten noch anstehen und dann würden wir auch wissen, ob es weitere Metastasen geben würde. Danach plante ich, wieder nach Perth zu fliegen, riskierend, dass mein Vater bereits während der Chemo sterben könnte und ich ihn nicht mehr lebend wieder sehen würde.
Ich hatte viele ungute Gedanken, war aber auch gefangen in meinen beruflichen Verpflichtungen. Wie konnte ich es schaffen, berufliche Schwierigkeiten zu vermeiden und noch etwas hier zu bleiben? Thomas musste das Bisherige und Kommende aus der Ferne mit anhören und aushalten. Zum Glück konnten wir immer wieder skypen und somit für Thomas Kontakt zu Vati herstellen. Meine Schwester hatte sich beruflich seit Wochen frei von Terminen und Verpflichtungen gemacht, um unseren Vater und unsere Mutter zu unterstützen. Sie würde dies also wieder tun müssen, wenn ich zurück nach Perth fliegen würde. Auch das machte mir Sorge und ein schlechtes Gewissen, ihr all die Arbeit zu zu muten.
Die erste Nacht haben wir alle relativ gut überstanden. Vati und Mutti endlich vereint in Ihrem Ehebett mit den üblichen nächtlichen Gängen zur Toilette. Ich habe im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen und am Morgen stand mein Vater auf einmal in der Tür zum Balkon wollend. Ein kurzes ‚GUTEN MORGEN‘ und dann war er auch schon an der Balkontür, die ich schnell von den Vorhängen befreit hatte. Mehr hatte er so früh nicht zu sagen.
Auf dem Balkon stand er rauchend, überlegend, das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagernd. Das war wohl so etwas wie seine Morgengymnastik. Ich gesellte mich zu ihm.
Leise und zaghaft sprach er darüber, dass er das alles nicht mehr möchte. Mein Magen drehte sich; ich weiß gar nicht, ob Mutti das zu diesem Zeitpunkt schon mitbekommen hatte.
Vati‘s Gesicht war gedankenverloren und wenig später sprach er über die Sinnhaftigkeit weiterer Therapien etc. Hinzu kam die wenig erholsame Nacht wegen seinem Schlafgerät und den Problemen mit der Prothese.
Das Schlafgerät passte nicht mehr ordentlich, da sich sein Gaumen bereits etwas zurück gebildet hatte. Am Samstag sind wir dann zum Notfallzahnarzt gefahren und haben eine Auffütterung seiner Prothese erwirken können. Ich habe Vati begleitet und sah ihm zu, wie er brav auf dem Zahnarztstuhl saß, den Mund überweit öffnete und nur wieder schloss, wenn der Zahnarzt das sagte. Ich war so traurig, ihn so zu sehen und aber auch erleichtert, dass er unkompliziert und schnell Hilfe bekam. Außerdem haben wir eine neue Maske für das Schlafgerät in seinem bis dahin gefüllten Koffer voller Masken gefunden. Vati hatte schon immer eine Sammelsucht; bisher dachten wir allerdings, dass er nur Schreibgeräte sammelte. Wir lachten darüber, als wir den Koffer öffneten und waren froh, dass nun alles wieder passte und Papsi einen ruhigeren Schlaf haben konnte. So oft hatten wir Witze über ihn gemacht, wie er in seinem Bett mit Maske lag – wie jemand vom anderen Stern. Wie unsere Mutter die Geräusche des Gerätes ausgehalten hat, ist uns verborgen geblieben. Erich Fried’s Gedicht ‚Es ist wie es ist, sagt die Liebe‘ beschreibt so wunderschön, dass man einiges aushalten kann. Wie auch immer, alles schien wieder gut.
....
Unser Vater war immer noch sehr schwach und bemühte sich, zurechtzufinden. Schon am ersten Abend seiner Rückkehr bewegte er sich nur noch zwischen Schlafzimmer und Küche, wo er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Er saß zu dieser Zeit immer am Fenster, die Gardine etwas beiseite gezogen, an die Wand starrend und sich eine nach der anderen Zigarette ansteckend. Mutti bekam kaum noch Luft, wollte aber nicht von Vati’s Seite weichen und hielt somit den Qualm aus. Nachdem dann die Küche vernebelt war und Mutti sich durchsetzen konnte, stimmte Vati dem Sitzen in der Wohnstube zu. Auch hier erinnere ich eine Episode, fragend, ob Vati ins Wohnzimmer gehen möchte. Er sagte 'nein', er geht in die ‚Wohnstube’. Ob er uns wohl angesehen hat, wie irritiert wir über seine Antworten waren? Auch diese sprachlichen Äußerungen ließen vermuten, dass Vati bereits weit weg und manchmal in seiner Vergangenheit war. Somit erklärte sich auch seine Wortwahl, die zum Teil veraltet klang.
Wir hatten keine Idee davon und werden es auch nie zu wissen bekommen, was Vati dachte, wenn er am Fenster saß und seine Kumpels, männlichen Nachbarn sah, mit denen er sich täglich an den Garagen traf und ein Schwätzchen hielt über Politisches aber auch über Neuigkeiten in ihrer Nachbarschaft. Schmerzlich hatten wir so unsere Phantasien. Wenn wir mit Vati spazieren gingen, hatten wir oft den Eindruck, dass er direkte Kontakte mit seinen Kumpels vermied. Da gab es jedoch eine Situation, die Gerlind mit ihm erlebte. Beide kamen vom Spazieren zurück und standen an der Hauseingangstür. Freunde waren an den Garagen und blickten herüber. Vati sagte zu Gerlind ‚Ob die sich wohl trauen?’ und meinte, ob sie sich wohl trauen, ihn anzusprechen. Einer oder zwei kamen tatsächlich, um zu fragen, wie es ihrem Freund geht.
Am Samstagnachmittag begann unser Vater erstmals davon zu sprechen, dass er keine Chemo und Untersuchung mehr haben wollte, verwies auf seine Patientenverfügung  und er begann, uns seine diversen Akten mit allen Informationen rund um Konten, Geld, Versicherungen etc. zu zeigen und zu erklären. Auch meine Schwester und ich hatten bereits über die Sinnhaftigkeit einer Chemo gesprochen und konnten seine Pläne gut verstehen, wenn wir auch zutiefst traurig darüber waren, wissend, was das bedeutete. Es war endgültig und klar, dass das Leben unseres Vaters nun nicht mehr lange dauern würde. Mutti war zunächst entsetzt, geschockt und traurig, wollte und konnte nicht mit anhören, wie unser Vater Schritt für Schritt erklärte, wo was zu finden sei und was zu tun wäre, wenn er nicht mehr ist. Er hatte auch, und das bereits vor der Klinik, eine größere Summe Bargeld von seinem Konto abgehoben, damit unsere Mutter genügend Geld zur Verfügung hatte.
Dieses Wochenende sollte also geprägt sein von der Übergabe seiner Geschäfte und auch von der endgültigen Entscheidung, an keinen weiteren Behandlungen teilzunehmen.
Das sonnige Wochenende lud ein zum Kaffeetrinken im Garten meiner Schwester und zu einem wunderbaren Kaffeepicknick auf den Mühl Rosiner Hügeln am Sonntag. Schmetterlinge gesellten sich zu uns an diesem Samstag. Mit einem Foto konnten wir diesen wunderschönen Anblick einfangen. Auch Vati erfreute sich daran. In Schwermut und traurigen Gedanken, erlebten wir wunderschöne Momente in Familie. Tränen mogelten sich immer häufiger in unsere Gesichter, jedes Wort, jede Geste, jeder Schritt ermahnte  und erinnerte uns daran, dass unser Vater sterben würde. Wir wunderten uns, dass er sich nicht mehr um sein heiß geliebtes Auto Gedanken machte, außer den Bremsen und Winterreifen. Vati fuhr sein Auto schon lange nicht mehr.
Vati hatte alles geregelt und wurde von nun an täglich schwächer. Er aß immer weniger und zog sich immer mehr in seine Gedankenwelt zurück. Manchmal hatte er noch einen lichten Moment und beteiligte sich an Gesprächen, aber auch das wurde nun immer seltener.
Jeder von uns musste lernen, zu akzeptieren und einen Umgang mit der Endgültigkeit zu finden. Es war grausam! Mutti saß und sah ihn an, hoffend und ihre Emotionen kontrollierend. Sie zeigte ihre Tränen nicht, würde das wohl für sie der letzte Ausdruck dessen sein, dass es keine Hoffnung mehr gab. 
Oktober  ist der Monat, in dem Vati, Mutti und ich Geburtstag haben. Wir waren alle seit langem zu all unseren Geburtstagen nicht mehr zusammen gewesen. Während wir Vati‘s Geburtstag noch im Krankenhaus feierten und er noch ungehalten, ungeduldig und genervt auf die Blumengrüße und Geschenke reagierte, saß er bei Mutti‘s Geburtstag in der Wohnstube und bemühte sich, diesen Tag durchzustehen.
Die Besucher, die an diesem Tag kamen, um Mutti zu gratulieren, waren wohl ziemlich erschrocken. Vati saß im Sessel und döste, beteiligte sich kaum an Gesprächen, schaffte es aber, zwei oder drei Zigaretten zu rauchen.
Es sollte auch der letzte Tag sein, an dem er seine Kleidung wechselte, aufstand und mit Gerlind einen Spaziergang machte. Seine Kräfte verließen ihn stündlich.  Eine letzte rote Rose für Mutti zum Geburtstag hatten wir Kinder für ihn besorgt. Am Frühstückstisch sprach er in Tränen über seine schönste Frau der Welt. Die Frau, die er vor 48 Jahren zum Altar geführt hatte, um sie zu heiraten und mit der er in zwei Jahren hätte Goldene Hochzeit feiern können. Er sollte noch oft sagen, dass es mit dem Feiern nun genug sei und dass man die Goldene Hochzeit ja auch vorziehen könnte. Die Kerze, die unser Vater von Francie zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, sollte eine besondere Bedeutung haben. Sie leuchtet nun täglich.
Scans gezeigt und erklärt hat. Natürlich konnte er abschließend nicht exakt sagen, wie lange unser Vater nicht Zeit hatte, aber der Arzt erwähnte auch, dass Patienten auch bereits während der Chemo gestorben waren.
Vati wurde mit einer Batterie von Medikamenten entlassen und ich hatte Gerlind gebeten, schon mal eine Medikamentendosette zu besorgen. Am Tag seiner Entlassung hatte unser Vater noch immer Wasser im linken Arm und in der linken Zuhause angekommen war es das wichtigste für unseren Vater, seine Medikamente, die wir in Schnipseln von der Klinik für das Wochenende gestellt bekommen hatten, für Samstag einzusortieren. Dies konnte er nur mit einer Lupe und unserer Hilfe. Das Sehen war sehr schlecht und seine Hände bereits zittrig. Erschwerend kam hinzu, dass die Medikamentennamen nur schwer leserlich waren, da wie geschildert, wir keine Verpackungen bekommen hatten. So haben wir dann nach Ankunft zuhause sofort die Tabletten für Samstag gestellt. Drei Medikamente konnten nicht einsortiert werden; das Kalinor musste täglich dreimal in Wasser aufgelöst und zwei andere Medikamente per Inhalation jeweils morgens inhaliert werden.
Gerlind und Ralf kamen am Abend und wir alle saßen betroffen zusammen und beendeten den Tag um 10.00 Uhr. Wie ein Ufo angeschlossen an der Maske und dem Schlafgerät ging Vati um 10:00 Uhr ins Bett. Wir fragten uns, wie unsere Mutter diese Geräuschkulisse aushalten konnte und bewunderten sie, dass sie nicht fluchtartig das Schlafzimmer verließ. Sie hielt sich tapfer und zu unserem Vater. Mutti wollte ihn nicht mehr alleine lassen und von seiner Seite weichen. Diese erste Nacht zuhause sollte die erste von vielen unruhigen Nächten werden.
Gerlind und Ralf sind dann am Abend noch einmal gekommen und wir haben in der Küche im Rauch und Nebel Wein und Bier getrunken. Ralf hatte für Vati alkoholfreies Bier mitgebracht wegen der vielen Medikamente. Ich erinnere noch, dass Gerlind und Ralf kurz nach ihrer Ankunft sagten, dass es Quatsch sei, alleine zuhause rum zu sitzen. Das, so sagten sie, könnten sie noch oft genug. So ging der Samstag zur Neige mit dem Plan für Sonntag, ein Picknick zu machen und anschließend noch einmal alle Akten etc. durchzugehen. Gerlind sollte dann auch dabei sein.
Am Nachmittag bzw. frühen Abend waren wir noch einmal unterwegs einkaufen und fanden Vati bereits beim Einsortieren seiner Medikamente für Sonntag nach unserer Rückkehr vor. Er hatte das schon ein wenig durcheinander gebracht und wir mussten dann noch einmal überprüfen, welche Tabletten doppelt bzw. nicht einsortiert waren. Das war etwas müßig, da wie bereits geschildert, die Tabletten nicht in Schachteln waren. Wie auch immer, irgendwie haben wir das dann ordnen können. Vati war wichtig, dass alles seine Richtigkeit hatte und für den nächsten Tag vorbereitet war. Wie es ihm wohl vorgekommen sein muss, mit anzusehen, wie Gerlind und ich die Tabletten sortierten.
Vati sprach wenig an diesem Tag, zu sehr in seiner eigenen Welt verharrt, begann er sicherlich bereits innerlich Abschied von uns zu nehmen. Gespräche, wie wir es von früher gewohnt waren, gab es nicht mehr. Keine Diskussionen, keine gegensätzlichen Meinungen, kein dominantes ‚ES IST SO WIE ICH ES SAGE‘  mehr. Wie wir das vermissen werden.
'Ich will keine weitere Behandlung'
Die Patientenverfügung am Abend signiert.
Tante Helga und Onkel Rolf schauen am Abend noch einmal vorbei, da sie Mutti und Vati lange nicht gesehen hatten. Beide waren gerade aus Kühlungsborn aus dem Wochenende gekommen. Alle vier, Tante Helga, Onkel Rolf und unsere Eltern, wollten dieses schon lange geplante Wochenende dort verbringen, das jedoch aufgrund des schlechten Gesundheitszustands unseres Vaters nicht mehr möglich war.
Am Nachmittag haben unsere Eltern ihren letzten Spaziergang auf den Hügeln von Mühl Rosin gemacht. Ein herrlicher Blick über das Dorf begleitete beide dabei. Wir sahen beide, von uns gehen, nur wenige Meter sind sie gegangen, stehen geblieben in unserem Blick. Angesicht zu Angesicht standen sie beide zueinander und verharrten für einen Moment, was sie gesprochen haben, blieb uns verborgen. Jeder für sich, von den Beobachtenden, hing seinen Tränen und Gedanken nach. Ich hatte immer wieder diese Angst, dass wir sie bald nicht mehr zusammen sehen und dass sie irgendwann beide nicht mehr zurück kommen würden. Dann drehten sie sich um und gingen langsam zurück zu unserem Picknickgelage.
Erleichterung, beide kamen zurück. Unsere Tränen trockneten für einen Moment und ein wenig Erleichterung nahm die Schwere von unseren Schultern. Zu wissen, dass der Kuss zwischen unseren Eltern einer der letzten war, war einer der schlimmsten Momente.
Wir haben viel fotografiert, das Dorf aus der Ferne, unsere Eltern in Liegestühlen, sitzend die Sonne und unser Beisammensein genießend. Jedes einzelne Bild erzählt eine kleine Geschichte und lässt uns erinnern, an unseren letzten gemeinsamen Familienausflug.
Wir beendeten diesen schönen Ausflug mit einer kleinen Rundfahrt über das alte Dorf Mühl Rosin zurück sollte die letzte Gelegenheit für unseren Vater sein, alte Erinnerungen über ein wundervolles Kindheits- und Familienleben abzurufen.
Unser Vater hatte sich nach Entlassung aus dem Klinikum gegen die Aufnahme in der Tagesklinik der Onkologie und einer weiteren Untersuchung, MRT des Kopfes, entschieden. Er hat mutig seine Patientenverfügung überarbeitet und von seiner Familie bezeugen lassen. Sein Hausarzt hat ihn beim Hausbesuch verständnisvoll beraten und in seiner Entscheidung unterstützt und versprochen, alles in seinem Ermessen zu tun, um auftretende Schmerzen zu lindern.
Zu diesem Zeitpunkt, es war der 11. Oktober 2010, wussten wir alle nicht, wie wenig Zeit und Leben unserem Vater noch bleiben würde.
Von den morgendlichen Erledigungen und Einkäufen zurück kehrend präsentierte Vati seinen handgeschriebenen letzten Willen noch einmal in zittriger Handschrift auf einem Blatt Papier. Es war ihm so wichtig, dass das sein Wille war und er an keine Geräte geschaltet wird. Seine Handschrift hatte sich schon sehr verändert und wir hätten es wohl nicht als seine erkannt, wenn er uns das nicht direkt gezeigt hätte. Dann verlangte Vati nach weiterem Papier, um sein Leben noch einmal aufzuschreiben für den Trauerredner. Als er drei Seiten geschrieben hatte, sagte er nur, dass da einiges doppelt sei und wir ihm das verzeihen müssten.
So sprachen wir auch über seinen Wunsch, wo er begraben werden wollte und wer die Trauerrede halten sollte. Vati stimmte zu, in Güstrow beerdigt zu werden, da Mutti dann besser dort hingehen konnte. Er stimmte auch zu, dass sein Grab nicht anonym sein sollte. So sollte Mutti eben auch einen Ort haben, zu dem sie gehen und trauern konnte. Gerlind und ich hatten sogar den Gedanken, die Urne Mutti ins Wohnzimmer zu stellen. Wir hatten diverse Fantasien, wie wir das bewerkstelligen konnten, wissend, dass das absolut nicht legal war. Wie auch immer, Mutti hatte das auch nicht gewollt. Sie wollte, wie gesagt, einen Ort, zu dem sie gehen kann.
Schon bei Vati‘s Entlassung und mit dem Wissen um die Diagnose hatte ich überlegt, den Flug nach Australien zu verschieben. Mit einem schlechten Gewissen meiner Arbeit gegenüber, aber mit einem noch unguteren Gefühl, wie geplant abzureisen, entschied ich mich heute, den Flug umzubuchen. Vorab hatte ich mit meinem Chef kommuniziert, um auf der sicheren Seite zu sein. Erleichterung machte sich breit, als ich das klären konnte und große Unterstützung von meinen Kollegen bekam.
Am Nachmittag gingen Mutti und ich zu Vati‘s Lungenarzt, vorher noch häufig Vati fragend, ob er nicht doch mitkommen wollte. Er lehnte ab. Der Besuch beim Arzt war sehr unerfreulich und wenig ergiebig. Eigentlich war es nur ein großes Ärgernis, da der Arzt arrogant und sehr distanziert, sein Wissen über den Krebs ungefragt zum Guten gab. Das hatten wir nun bereits zur Genüge von anderen Ärzten gehört und auch verstanden! Relevante Informationen, die für uns wichtig waren, wie lange Vati noch hatte und was für Symptome wir zu erwarten hatten, verwies er auf die vielen Bücher in seinem Regal. Seine ablehnende Haltung hinsichtlich eines eventuellen Hausbesuches gab er uns deutlich zu verstehen und verwies auf den Hausarzt. Sein letzter Rat, uns einen Pastor zu suchen, war mehr als unangemessen, aber eine klare Botschaft. Er verschrieb außerdem nicht alle Medikamente, die Vati von Rostock verschrieben bekommen hatte. Damit mussten wir also doch zu Vati‘s Hausarzt und waren uns einig darin, dass wir das hätten gleich tun sollen. Aufgeregt und verärgert, besorgt, verschwitzt und verzweifelt verließen wir diese Arztpraxis.
Beim Hausarzt angekommen, bekamen wir alle erforderlichen Rezepte und auch eine Verordnung für einen Duschhocker. Die Arzthelferin versprach, mit dem Hausarzt zu sprechen und ein Hausbesuch noch am gleichen Tag zu veranlassen.
Am frühen Abend rief der Hausarzt an und sprach mit Gerlind über Vati‘s Diagnose. Wenig später saß er unserem Wohnzimmer und nahm sich viel Zeit, um mit Vati und uns zu sprechen.
Wir nutzten dann auch die Gelegenheit, um dem Arzt die Patientenverfügung zu zeigen. Er stimmte dem Geschriebenen zu und nutzte die Zeit, um die Bedeutung des Ablehnens lebensverlängernder Maßnahmen zu sprechen. Er richtete seine Frage direkt an Vati, was passieren soll, wenn Vati nicht mehr isst und eine Magensonde angelegt werden müsste. Dies wäre eine lebensverlängernde Maßnahme. Vati lehnte nach kurzer Überlegung ab und wiederholte seinen Entschluss, an nichts angeschlossen zu werden. 
Ralf und Gerlind waren seit Freitag jeden Abend hier, um mit unseren Eltern gemeinsam den jeweiligen Tag zu einem netten Abschluss zu bringen. Vati ging an diesem Abend gegen 10 Uhr ins Bett und wir schauen ihm zu, wie er wieder seine Maske anlegte, den Fernseher im Schlafzimmer anmachte und schneller einschlief, als der Fernsehsender geschaltet war. Zunehmend erschöpft und schwach bewegte sich unser Vater langsam von einem Raum zum anderen in der Wohnung unserer Eltern.
'Bin ich schon in der BILD ?'
Bin ich schon in der Bild? Das war eines der ersten Fragen an diesem Morgen. Vati‘s schelmischer Blick und Witz war für einen Moment Herr der Sorgen geworden und sorgte für eine nette Begebenheit.  So richtig wussten wir nicht, warum er das fragte. Er war irgendwie überzeugt, dass seine Geschichte ein Renner sein könnte. (Aus heutiger Perspektive und Erfahrung sehr plausibel.)
Vati rauchte, dass der Rauchmelder eigentlich ununterbrochen Signal hätte geben müssen. Er saß am Esstisch in der Küche, blickte die Wand an, hatte gelegentlich das Radio an und schaute selten aus dem Fenster. Die Garagen gegenüber waren täglicher Treffpunkt der männlichen und älteren Herrschaften. Vati war nicht mehr dabei.
Irgendwie wirkte er heute erleichtert nach seiner Entscheidung und dem Wissen darum, dass sein Hausarzt 100prozentige Unterstützung bei Schmerzen versprach. Der Arzt hatte gestern schon Valeron verordnet. Tropfen mit dem Wirkstoff Tillidin sollten Schmerzen lindern und bei Bedarf eingesetzt werden.
Am Nachmittag ging Vati mit einem von uns spazieren, verlangte nach Eis zum Kaffee. Gerlind hatte die Eisfee gespielt und wir waren irgendwie auch verwundert über den plötzlichen und unerwarteten Wunsch. So kamen wir an diesem Nachmittag zu einem leckeren Erdbeereis und einer gewissen Freude daran, dass es unserem Vater schmeckte. 
'Wo ist meine Prothese?’
Vati wurde immer schwächer, zum Duschen mussten wir ihn motivieren und schafften dies im Ganzen wohl dreimal in den zwei Wochen. Den Duschhocker jedoch nutzte er nicht. Der geplante Eisausflug nach Dobbertin wurde auf morgen verschoben.
Morgen ist Muttis Geburtstag und Vati hatte keine Gelegenheit, ihr ein Geschenk oder eine Blume zu besorgen. Er hatte ihr immer schon einen Tag vorher sein Geschenk gegeben und sich daran gefreut und geschmunzelt, als wir ihn immer wieder ermahnten, dass nicht einen Tag eher zu machen. Seine Antwort war immer, dann freut sie sich eben zweimal. Mutti erzählte auch, dass er manchmal sagte, dass ihr Geburtstag erst am 17. Oktober ist. Das hatte er wohl manchmal nur getan, um sie zu necken. Heute konnte er weder das eine noch das andere und wir bieten ihm an, für Mutti eine Rose zu besorgen.
Nachmittags schlief Vati mit dem Schlafgerät und verlor nun regelmäßig sein Obergebiss und fand es nach langem Suchen in der Bettritze. Wir lachten zu diesem Zeitpunkt noch darüber, und wussten noch nicht, dass Vati bald keine Prothese mehr tragen würde.
'Ich habe keine Zigaretten'
Unseren Ausflug nach Dobbertin hatten wir heute bei herrlichstem Sonnenschein gemacht und dies unter dem Abschnitt ‚Eis essen‘ bereits ausführlich beschrieben.
Auf Mutti‘s Anraten hin, hatte ich schon mal eine Schnabeltasse gekauft und auch eine Ente. Ich hoffte so sehr, dass wir das nicht brauchen würden. Ich hatte auch Angst, dass Vati mitbekam, was wir schon vorsorglich gekauft hatten. Wie peinlich ihm das wohl gewesen wäre.


'Ich hatte die schönste Frau'
Heute haben wir Muttis Geburtstag gefeiert, ein anstrengender Tag für unseren Vater. Er erinnerte sich am Morgen an ihren Geburtstag und gratuliert Ihr. Er weinte, wohl in der Erinnerung wissend, dass dies das letzte Mal war, mit ihr an ihrem Geburtstag zusammen zu sein. Zu Mutti‘s Geburtstag war es unserem Vater nicht mehr möglich und dennoch sollte eine einzige Rose von ihm für sie für seine Liebe stehen. Er sprach über die vorgezogene Goldene Hochzeit und in Tränen erinnerte er sich an die schönste Frau, seine Frau, die er zum Altar vor 48 Jahren geführt zu hatte.
Wir alle wussten, dass es das letzte Mal sein würde, dass Vati an ihrem Geburtstag dabei war. Am Abend saßen wir in ganzer Familie zusammen und Vati schwieg, das Sprechen und Mithalten an Unterredungen fiel ihm schwer. Er spürte, dass die Worte ihm nicht mehr so einfach von den Lippen sprangen und dennoch war er bei uns. Unsere Familie, der kostbarste Schatz, sein Schatz, den er mit Mutti gemeinsam geschaffen hatte, wird ihn begleiten, so lange und so weit wie möglich. Schmerzlich hingen auch wir in unseren Gedanken und weinten ununterbrochen. Vati zählte die Minuten und fragte regelmäßig wie spät es ist. Er blieb heute auf, um so lange wie möglich mit uns zu sein und er hielt sogar die Minuten aus.
Dann irgendwann war auch dieser Abend zu Ende. Wir kuschelten uns zu unserem Vater ins Bett, voller Sorge um ihn und in Traurigkeit, nicht wissend, wie lange wir das noch konnten. Als alle weg waren, saßen Mutti und ich noch ein wenig in den neuen Sesseln und redeten ein wenig. Mutti hielt ihre Tränen zurück, doch ihr Schmerz war laut und deutlich zu spüren. Sie konnte gar nicht alles aussprechen und ahnen, wie wenig Zeit mit Vati uns allen noch bleiben sollte.
Am Nachmittag  nahm Gerlind Vati mit, um Kontoauszüge zu holen und um einen anschließenden letzten Spaziergang zu machen. Erschöpft kam er mit Gerlind zurück, quälte sich langsam die Treppen hoch und begrüßte die nächsten Gäste nur per Zuruf und verschwand sofort in der Küche. Dort prüfte Vati ein letztes Mal seine Kontoauszüge und machte schriftliche Anmerkungen zu jedem einzelnen Posten, bevor ich sie abheften konnte.
Bärbel, Thomas Mutter, hatte ein paar Bücher für Vati mitgebracht. Sie tat das oft, damit Vati etwas zu lesen hatte. Heute musste sie alle Bücher wieder mitnehmen.
Vati‘s Nächte wurden immer unruhiger und wir fragten ihn, ob er auch etwas träume. Er konnte sich nicht erinnern.
'Fragt mich'
Schon seit Tagen bemerkten wir, wie wenig Vati aß und auch dadurch schwächer wurde. Wir waren mehr und mehr in Alarmbereitschaft, irgendwie wartend auf neue Symptome und Verschlechterung von Vati‘s Gesundheit.
Heute sollte so ein Tag sein. Er stand den ganzen Tag nicht auf, kam nicht aus dem Bett, aß nur wenig, und war meistens im Dämmerzustand. Zu Mittag, irgendwie, hatten wir ihn an den Tisch bekommen. Und ich wunderte mich die Tage schon, wie so einige wichtige Dinge für Vati unwichtig geworden waren, wie beispielsweise das spezielle Messer. Heute zum ersten Mal sagte er, dass er eben dieses Messer bitte haben wollte. Das war dann auch wieder so ein spezieller Lichtblick.
Vati versank wieder in seinem Dämmerzustand und lag wieder im Bett. Könnte doch wenigstens eine Zigarette ihn daraus locken, es gab wohl auch noch ein heute. Doch musste schon jemand dabei sein, denn Vati traf nicht mal mehr den Aschenbecher. Er saß relativ lange im Sessel in der Wohnstube, schlief aber die ganze Zeit. Unterredungen waren seit langem nicht mehr möglich. Das einzige, was unseren Vater lebhaft machte, waren die steuerlichen und buchhalterischen Firmenangelegenheiten seines Schwiegersohns. Vati war so besorgt darum und bot in lichten Momenten sein Wissen auf Fragen an. Doch auch das sollte dann bald vorbei sein.
'Der geölte Blitz'
Vati hatte Mutti und Gerlind letzte Nacht sehr auf Trab gehalten. Er war oft auf die Toilette und um einen Sturz in der Nacht zu vermeiden, holte Gerlind von der Notapotheke die ersten Einweghosen.
Papsi schlief heute wieder viel, er quälte sich. Wir waren bei ihm und mussten sein Leid mit ansehen. Wir konnten nichts tun außer bei ihm sein. Vati war sehr durcheinander und hatte kaum gegessen. Es war hart, ihn so zu sehen und zu wissen, dass wir ihm nicht helfen konnten.
Gerlind zog ein und verbrachte die Nächte von nun an hier in Güstrow in der Wohnung unserer Eltern. Vati wurde nachts immer aktiver, rannte auf Toilette und auch Mutti‘s Schlaf war dadurch erheblich gestört. Ich zog in das Arbeitszimmer, damit Gerlind im Wohnzimmer auf der Couch schlafen konnte. Die erste von vielen unruhigen, nervenaufreibenden Nächten sollte beginnen und uns alle bis auf das Letzte fordern.
Im Vati‘s tiefsten Innerem spürte er unsere von nun an permanente Anwesenheit, und fühlte sich vielleicht und hoffentlich etwas geborgen.
Am Abend schlief Vati ruhig ein, nutzte zum ersten Mal die Ente, da er so schwach war. Er hielt sich am Fensterbrett fest und ich vertraute darauf, dass er das alles im Griff hatte. Gerlind riet dann, dass ich die Ente halten sollte, doch da fiel sie schon zu Boden. Hurra.
Die Nacht wurde wieder unruhig und irgendwie schaffte Vati es, mitten aus dem Schlaf auf die Toilette zu rennen, dort unter Schmerzen zu pullern und dann sitzen zu bleiben. Mutti‘s Versuch, Vati von der Toilette zu bekommen, scheiterte kläglich und endete mit der Drohung, dass sie die Mädchen holen würde. Gerlind und ich sprangen auf, um ihr zu Hilfe zu kommen.
Wir haben so manchen Hockstrecksprung in der Toilette veranstaltet, um unseren Papsi vom Klo zu holen. Schweißtreibend, verzweifelt, nervenaufreibend und auf Vati einredend verbrachten wir die kommenden Nächte mehr auf der Toilette, auf dem Weg zurück ins Bett und an Vati‘s Bett.
So hatten wir auch dieses Mal wieder eines dieser Erlebnisse.
Mutti sagte einmal zu Vati, dass er wie ein geölter Blitz aus dem Bett war und man gar nicht so schnell gucken konnte. Als wir ihn wieder zum Bett begleiten konnten, saß er auf der Bettkante und schien etwas neben sich auf dem Bett zu suchen. Er sagte immer wieder so etwas wie ‚FITZ, FITZ‘ und wir fragten ihn,  was er meinte. Dann  griff er nach Mutti‘s Gürtelschnalle und sagte ‚Blitz‘. Dann endlich klickte es in unseren Hirnen, er suchte also den Blitz. Es war ein so niedlicher Moment im Wust so vieler schmerzvoller Situationen. Wir werden dieses Erlebnis immer in Erinnerung behalten.
Nachdem Mutti‘s Drohung ‚Ich hole die Mädchen‘ uns auf den Plan rief, wurde ich beim nächsten Mal auch forscher und sagte, dass wir den Notruf anrufen müssen, wenn Vati sich nicht vom Clo bewegte.
Zunehmend mussten wir feststellen, dass Vati die Orientierung zur Person und Situation verlor. Ab und an begann er zu fragen ‚Wer bist Du‘. So checkten wir zwischendurch, ob er wusste wer wir sind und das klappte in der Regel auch.
Vati hatte heute keine Tabletten mehr zu sich genommen. Wir wussten auch nicht so recht, wie wir damit umgehen sollten. Im Grunde machte das durchaus Sinn. Er hat auch nicht mehr gegessen.
'Ich hol die Mädchen'
Vati war verzweifelt, er konnte nicht verstehen, was passierte. Er begann zu äußern, dass er doch alles abgeschaltet haben wollte. Außerdem glaubte er uns das heutige Datum nicht mehr. Selbst die BILDzeitung konnte kein Beweis für das Datum sein. Er wiederholte immer wieder, welcher Tag heute war. Gerlind versuchte, ihm zu erklären, dass die Zeitung aktuell war. Im Sessel sitzend versuchte er Vodafone anzurufen, um das heutige Datum zu überprüfen. Er konnte die Nummer des Kontostands nicht mehr erinnern und tippte deshalb immerzu die falsche Nummer ein. Langsam und verzögert, bis er dann endlich die Nummer eintippte, die ich ihm sagte. Als er dann verbunden war, legte er wieder auf. Dann war zwar nicht klar, ob er es verstanden hatte, oder der Gedanke eben einfach wieder verschwunden.
Gerlind erinnerte sich daran, wie Vati immer wieder sagte, dass heute nicht der 18. sein könnte, das es doch mindestens schon der 22. sein müsste. Dass dieses Datum tatsächlich eine besondere Bedeutung haben würde, die wir unser Leben nicht mehr vergessen werden, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Vati wunderte sich, dass sein Herz so stark war und sprach auf einmal von einem Schweineherz. Wir konnten uns die Verbindung von seinem Herzen zum Schweineherzen nur dadurch erklären, da unser Vater bereits seine Vergangenheit durchging. Er hat mal in einem Schlachthof gearbeitet. Endgültig konnten wir diese Verbindung aber nicht aufklären.
Die Körperhygiene unseres Vaters wurde auch immer schwieriger, so dass wir besondere Methoden einsetzen mussten, um ihn unter die Dusche zu bekommen. Heute versprachen wir ihm ein Bier und eine Zigarette nach dem Duschen, was ihn dann letztendlich auch motivieren konnte. Doch einmal weg gesehen, nahm er schon einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Gerlind ermahnte ihn und sagte, dass das doch erst nach dem Duschen sein sollte. Wie auch immer, er hat sich dann doch unter die Dusche gestellt. Schwach, abgemagert und langsam schaffte er es unter die Dusche. Dieses Mal das letzte Mal. Beim vorletzten Duschen hatte ich ihm noch die Haare geschnitten. Sein Haar wurde immer silberner und so schön.
Vati verharrte in seinem Glauben, dass wir seinem Wunsch nicht nachkommen würden und war zum Teil vorwerfend. Als er von der Dusche in die Küche ging, anstatt zum Anziehen in das Schlafzimmer, hatte er die Einweghose noch nicht an. Wie ein nasser Sack fiel er auf den Küchenstuhl und ließ sich dort nieder. Wir konnten ihn zunächst nicht bewegen, sich zumindest die Einweghose anzuziehen. Gerlind wartete geduldig und als sie ihn dann so weit hatte und schon beim Hochziehen der Hose war, wurde unser Vater auf einmal klar im Kopf, sah sie an und fragte, was sie da machte. Er hatte den Eindruck, dass wir seinen Wunsch nicht respektieren. Er musste sich geärgert haben und auch geschämt. Er verstand die Welt nicht mehr.
Da unser Vater nicht mehr essen wollte bzw. keine Nahrung schlucken konnte, schlug Mutti vor, Babynahrung zu kaufen. ich war entsetzt und wollte nicht, dass er wie ein Baby behandelt wird. Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun, doch meine Gedanken waren verwirrt und ich wollte es nicht wahrhaben, dass nichts anderes mehr ging. So hatten wir dann Babynahrung gekauft, 2 Gläser, von dem am Ende dieser Woche anderthalb nicht aufgebraucht waren. Ich erinnere, wie Vati am letzten Wochenende noch etwas Festes gegessen hatte und wir froh darüber gewesen waren. Eine Stunde oder zwei später spuckte er das Gerlind zusammen gemümmelt wieder in die Hand.
Am Nachmittag begann Vati zu dösen, war verwirrt und in seiner Welt. Sätze und Fragen wie 'Wer bist Du? Wo bin ich? Ich will nach Hause! Ich kann nicht mehr' hörten wir von nun an sehr oft.
Zur Nacht trug Vati sein Schlafgerät nicht mehr. Er sprach im Traum immer wieder diverse Namen aus, und sagte im leisen Ton sehr oft 'Ja ... ja ..ja...jaja ...'das tat er schon eine Weile und wir hatten den Eindruck, dass es tatsächlich Jemanden gab, mit dem Vati sprach.
Ich hatte zu dieser Zeit bereits das Gefühl, dass der Tod begann, ein Auge auf unseren Vater zu richten. Vor einigen Wochen las ich das Buch 'Die Bücherdiebin' von Markus Zusak, ein Buch aus der Sicht des Todes geschrieben. Irgendwie hatte mir das geholfen, und ich hatte ein gutes Gefühl dabei, dass der Tod über unseren Vater sorgsam wachte und sich aufmachte, ihn bald abzuholen und seine Seele davon zu tragen.
'Hört bitte auf'
Die Nacht war ein einziger Marathon, für Vati, der immer noch abrupt zur Toilette lief und uns in Atem hielt. Wir kamen kaum hinterher und hatten Angst, dass Vater stürzt.
Hierzu sollte uns im weiteren Verlauf des Tages die liebevolle und kluge Frau H. (Pflegebienen) einen wichtigen Rat geben. Sie beobachtete, wie wir sofort aufsprangen bei jedem Geräusch, dass unser Vater machte. Frau H. beruhigte uns und versicherte, dass wir nicht alles vermeiden können, und wenn es zum Sturz kommt, wie wir uns verhalten können. Sie wies auch darauf hin, dass wir neben all dem Stress auch auf uns selbst achten sollten. Wir hätten schließlich nichts davon, wenn wir am Ende selbst krank wären. Wie wahr und wichtig, dass sie uns das gesagt hat.
Vati musste es bei jedem Gang zur Toilette vorgekommen sein,  als ob er jeweils einen Marathon absolviert hatte. (Dabei sagte er so oft in seinem Leben, dass Sport Mord ist) Am Ende eines jeden Gangs saß er erschöpft auf der Toilette und sagte, er kann nicht mehr. Nicht mehr hoch kommen, nicht mehr gehen, nicht mehr … Wir waren verzweifelt in dieser Nacht. Mutti war kurz vor dem Nerven­zusammenbruch. In der Nacht sagte sie noch, dass das so nicht weiter gehen konnte, er müsste dann doch irgendwo hin gebracht werden. Uns war schlecht bei dem Gedanken, Vati aus seiner Häuslichkeit wegzubringen und damit entgegen seinem Willen zu handeln. Wir hatten mit ihm vor ca. 1,5 Wochen über ein Hospiz gesprochen, doch auch das lehnte er ab. Somit waren uns alle Hände gebunden, wenn wir nicht entgegen seinem Wunsch handeln wollten. Auf der anderen Seite spitzte sich die Situation dramatisch zu, wir alle waren am Ende, mit unseren Kräften und Ideen, wie wir die Situation verbessern könnten. In der Nacht dann den Schreibtischstuhl auseinander gebaut in der Hoffnung, Vati damit an der Toilette abzuholen und ihn zum Bett zu rollen. Als der Stuhl in seine Einzelteile zerlegt war, und wir Vati 'abholen' wollten, passte dieser Stuhl dann nicht durch den Türrahmen. Dann mussten wir Vati Schritt für Schritt unterhaken und ihn aus der engen Toilette raus begleiten. Unterwegs hielt er sich an Türrahmen fest, wurde immer schwerer zu halten, schlief im Stehen ein und war kurzzeitig nicht ansprechbar.
Ich überlegte, den Blumenroller zu nehmen, um Vati damit vom Klo zu holen. Gerlind war überzeugt, dass das nicht gelingen und der Roller eher zusammenbrechen würde.
Dann haben wir Mutti ausquartiert und in die Wohnstube zum Schlafen gebracht. Wir haben die Betten getauscht und ich habe dann neben Vati im Schlafzimmer gelegen. Zwischendurch ist er dann so auf meine Seite gerutscht, dass er beinahe auf mir lag. Dann wurde es etwas ruhiger, ich konnte ihn beim nächsten Harndrang dazu bewegen, in die Ente zu pullern. Dabei ist dann die Ente runter gefallen und das nächste Malheur war zu beseitigen. Im Gesamten sind wir wohl alle neun Mal auf gewesen, um Vati zu helfen etc.
Uns allen war klar, dass wir eine solche weitere Nacht nicht überstehen würden. Also was sollten wir tun? Ein Schlachtplan musste her.
In aller Ruhe und Vernunft haben wir beschlossen, die Pflegebienen, ein ambulanter Pflegedienst, anzurufen. Außerdem, weiß gar nicht mehr, ob wir da selbst drauf gekommen sind, wollten wir eine Verordnung für ein Pflegebett.
Für eine ärztliche Verordnung und wegen der grundsätzlich zugespitzten Situation riefen wir den Vertretungsarzt an und baten darum, einen Hausbesuch zu machen. Vati hatte wieder mehr Wasser im Arm und seiner Hand, so dass wir auch hier auf Nummer sicher gehen wollten. Der Notruf, den ich zuerst gewählt hatte, verwies auf den Hausarzt, der dann um die Mittagszeit auch kam.
Noch an diesem Morgen hatten wir Vati's Arbeitszimmer ausgeräumt, um Platz für das Pflegebett zu machen. Onkel Rolf war gekommen und hatte uns mächtig geholfen. Es war alles auszuräumen, Bücherregale, Schreibtisch und ebenso mussten diese Möbel raus. Den Schreibtisch hatten wir dann in die Wohnstube gebracht, nachdem wir diese auch umgeräumt hatten.
Zwischendurch kam uns der Gedanke, dass wir bei all der Hektik gar nicht mit bekommen würden, wenn unser Vater sterben würde.  Eine alles in allem groteske Situation.
Vati war überhaupt nicht ansprechbar, dämmerte vor sich hin, lag hilflos und stöhnend quer im Bett. Er hatte sich wirklich beinahe um 180 Grad gedreht und lag in der Mitte quer über dem Ehebett. Wir schafften es, trotz Hektik und Aufregung, immer wieder bei ihm zu liegen, ihn zu versorgen und mit bzw. neben ihm zu kuscheln. Manchmal schaute er hoch, fragte ‚Hm? ‘ und legte seinen Kopf wieder hin. 
Der Vormittag floss in den Mittag und darüber hinaus über. Wir alle hatten nicht gegessen und waren im Dauerstress.
Die Pflegebienen waren kurz vor Mittag gekommen und hatten sich unglaublich viel Zeit genommen. Dabei waren sie zuerst zu Vati  gegangen und hatten einen ersten Kontakt aufgenommen. Wir beobachteten das alles sehr aufmerksam, nicht wissend, wie Vati auf Fremde reagieren würde. Er war aber nett und ließ sich helfen. Wir mussten schmunzeln, als er Frau H. mit ‚Katinka‘ ansprach. Warum er das tat, wussten wir nicht, war auch nicht wichtig, sorgte aber für eine entspannte Atmosphäre.
Dann musste er pullern, und Frau H. begann zugleich, ihn im Bett die Ente anzulegen. Im Leben hätten wir das nicht gekonnt.
Dann kamen die Ärzte, ein Ärztepaar, die die Vertretung für den Hausarzt übernommen hatten. Sie sprachen Vati an und er reagierte, beinahe als ob nichts gewesen wäre. Er war klar, reaktiv und orientiert. Unglaublich. Na das war doch ein Klacks für die Ärzte, was soll die ganze Aufregung. Sie verordnen ein Pflegebett und ein Schlafmedikament. Das hatten die Pflegebienen vorgeschlagen. Wir sprachen über Morphium als nächst möglichen Behandlungsschritt. Zuerst sollten wir unserem Vater jedoch eine Schlaftablette verabreichen. Und dann sagte der Arzt, dass Vati keine Schmerzen hätte, aber wenn es so weit wäre, wie gesagt, dann würden sie Morphin aufschreiben. Eine Bemerkung der Ärztin zugewandt zum Pflegedienst deutete mögliche Konsequenzen an. Sollte Morphin gespritzt werden, wäre  eine Verflachung des Atems die Folge und das könnte ein Einschlafen für immer auslösen.
Alle Medikamente wurden offiziell abgesetzt!
Als die Ärzte weg waren, und wir  ein Pflegebett vom Sanitätshaus für heute zugesichert bekommen hatten, sind wir dann noch mal zu Vati, um ihn zu betten und aus der Querlage raus zu holen.   Die Pflegebienen taten alles und mussten dann erleben, wie unser Vater auf einmal einen wachen Moment hatte und Folgendes zum Besten gab, nachdem wir ihm erklärten, dass er ein neues Bett bekommt und der Pflegedienst uns helfen wird.  'Ich bin der mächtigste Mann der Welt. Mein Schwiegersohn muss nicht arbeiten, in meiner Familie muss keiner arbeiten. Wir lassen alles kommen. .. Och, jetzt eine schmöken und ‘nen Bier' Wir waren für einen Moment erleichtert, hier war er wieder, unser Vater. Genauso schnell tauchte er aber auch wieder in die Dämmerwelt ab und vergaß, eine zu schmöken und ‘nen Bier zu trinken. Dabei hätten wir ihm heute ein richtiges Bier gegeben, da es sinnfrei war, Vati nur alkoholfreies Bier zu geben. Wie auch immer, noch sollte es nicht sein.
Am Nachmittag wurde das Pflegebett geliefert und aufgebaut. Währenddessen hatte Gerlind uns schnell etwas zum Essen organisiert, die wir so nebenbei aßen. Frau H. kam wenig später, um Vati zum neuen Bett zu bringen und ihn dort zu lagern. Dies jedoch sollte ein besonderer Akt werden, den wir auch videodokumentiert haben.
Vati wollte einfach nicht aus seinem Bett. Er war schlapp, schläfrig, ungenügsam und wütend. Frau H. bemühte sich einfühlsam, Vati zu überzeugen. Doch er reagierte mit: 'Ich will das nicht. Was macht ihr? Ich will sterben. Schaltet ab. Ich kann nicht mehr.' Er ließ sich nicht bewegen, so dass unsere Geduld aufs Äußerste gefordert war. Mutti sagte irgendwann, wenn er nicht mithelfen würde, dann müsste er ins Krankenhaus. Dann war Stille. Er bewegte sich trotzdem nicht. So sprangen wir alle um ihn herum, versuchten, ihn zu motivieren, mit einem Bier und einer Zigarette zu locken und und und.
Die konsequente und stetige Motivation sowie das Zureden halfen dann, Vati nach ca. 1 Stunde zu bewegen, ins neue Bett gebracht zu werden. Vati sagte wieder dieses ‚Ja … jajajajaja …‘ als er stand und ließ sich zum neuen Bett bringen, wo er sich wie ein nasser Sack reinfallen ließ. Das war das letzte Mal, dass er aufrecht einige Meter gegangen war.
Ich war zu dieser Zeit unterwegs, um den verordneten Toilettenstuhl abzuholen und ihn durch die halbe Stadt bis zum Auto zu tragen. Als ich zurück kam, lag Vati im neuen Bett, war frisch gemacht und erschöpft. Wir sanken alle in die Sessel, als Frau H. ging und dürsteten nach einem Schnaps.
Ralf kam am Abend vorbei und wir hofften, dass Vati mit ihm ein Bierchen trinken würde. Doch dazu war Vati leider zu schwach und zu weit weg.
Mutti hatte auch noch eine super kreative Idee und holte aus dem Keller Styroporschläuche und ‚bezog‘ damit die oberen Kanten der Bettgerüste, damit Vati sich nicht verletzte. Aufgrund seiner unkontrollierten Bewegungen seiner Arme, die er oft in die Luft hob und die dann mit voller Kraft nach unten und auf die Kante fielen, mussten wir zumindest für eine weichere Kante sorgen. Dank Mutti’s Erfinderqualitäten konnten wir hier etwas Besserung schaffen.
Zum Abend zogen Gerlind und ich dann ins Schlafzimmer, so dass wir alle drei Mädels in einer Reihe von nun an schlafend nebeneinander liegen konnten. Mutti auf ihrer Seite, Gerlind in Papa's Bett und ich auf der Matte neben Gerlind. Immer, wenn ich als Letzte ins Bett kam, schauten beide wie die Erdmännchen und im Doppelpack hoch.
Gerlind und ich waren um 22 Uhr zu Vati, um ihm die Schlaftablette zu geben. Zerdrückt und in etwas Flüssigkeit reichten wir ihm das Schnapsglas und Vati sagte 'PROST' und trank. Hoffnung, dass die Nacht ruhiger wurde, machte sich breit. Dann warteten wir auf Frau H., da wir dachten, sie würde um Mitternacht noch einmal kommen. So quälten wir uns, wach zu bleiben und irgendwann fiel uns dann ein, dass sie heute wohl nicht mehr kommen würde.
Wir stellten den Wecker im 2 Stunden Takt, um vor lauter Müdigkeit nicht zu vergessen, nach unserem Papsi zu sehen.
Gerlind und Mutti waren schon wieder bei Vati irgendwann mitten in der Nacht, um ihn auf den Toilettenstuhl zu setzen, was er auch machte. Puh, keine Angst mehr, ihn nicht mehr von der Toilette bewegen zu können. Doch saß unser Vater nicht so richtig auf dem Stuhl und hatte schon los gemacht. Also wieder wischen! Papsi stöhnte und schaffte es kaum, sich einfach nur zu drehen und wieder ins Bett zu legen, obwohl nur ein halber Meter zwischen Bett und Stuhl waren. Er stöhnte und sagte wieder 'Ich kann nicht mehr'.
'Rauchen Sie?'
Immerhin, Mutti hatte wesentlich besser geschlafen und fand, dass die Nacht nicht so unruhig war, dennoch war auch sie bei jedem Geräusch gesprungen, wir auch, deckten Vati immer wieder zu, der immer noch unruhig war und rief. Er konnte nun nicht mehr Sätze vervollständigen, so dass wir Probleme hatten, ihn zu verstehen, schlimm!
Frau H. kam um 9:00 Uhr an diesem Morgen und arbeitete so gut mit Vati zusammen. Er machte so gut wie möglich mit und das zu beobachten war für uns eine sehr große Erleichterung. So bekam er eine professionelle und warmherzige Ganzkörperwäsche, wurde rasiert, die Zähne wurden geputzt, hübsch eingecremt und somit rundum frisch gemacht. Danach war er natürlich sehr erschöpft.
Während der Pflege war er auch zu Späßen aufgelegt, soweit man das als Späßchen beschreiben kann. Er hatte auf seine Weise anders kommuniziert wobei einige seiner Charakterzüge zum Vorschein kamen. So wie das ‚Katinka‘ gestern oder die Vorstellung als ‚mächtigsten Mann der Welt‘ hat er auch heute für einen Moment eine nette Konversation geführt. Vati fragte Frau H., ob sie rauchen würde und sie bejahte. Darauf sprach unser Vater ‚Ich habe gehört, dass das schädlich sein soll‘. Auch hatte er gefragt, wie alt er ist. Das konnte Frau H. nicht beantworten und es war ihr peinlich. Das gestrige Erstgespräch war ja doch von einiger Hektik und dem Wichtigsten an Information geprägt. Wir hatten das alles nicht direkt erleben können, waren dankbar, dass Frau H. diese kleine Episode mit uns geteilt hatte. Wir hatten gelacht.
Im weiteren Verlauf fragte er, ‚Wer er ist, wer bist du, wo sind wir, ich will in mein Bett und ich will nach Hause‘. Wir wussten, dass das demente Symptome waren und hatten unseren ganz besonderen Umgang damit gefunden. Manche seiner Aussagen und Fragen schmerzten so sehr und trieben uns Tränen in die Augen.
Auch heute war unser Vater geschwächt und hatte wenige lichte Momente. Er aß seit Tagen nicht mehr und unsere Mutter hatte Sorge, da wir nichts machen konnten, und dass das unterlassene Hilfeleistung wäre. Wir hatten darüber immer wieder gesprochen, um mit dieser Ohnmacht so gut wie möglich umzugehen.
Am frühen Abend startete ich noch einmal den Versuch, mit Vati über eine plattdeutsche Geschichte zu sprechen, von der wir immer noch nicht wussten, wer sie verfasst hatte. ‚‘Wat hät de moond förn groten hof …‘ das ist ein Auszug aus einer Konversation zwischen zwei älteren Leuten. Vati half mir ein wenig, ergänzte einzelne Sequenzen, so gut er konnte. Als ich ihn fragte, ob er jetzt wüsste, wer es geschrieben hatte, verneinte er. Ich war froh über diese kleine, aber doch so bedeutsame Begebenheit. Dann brach der Faden wieder ab und Vati sprach plötzlich von Leberwurst, aber das er nicht essen wollte und dass wir die Lichter anbringen sollten, fragte wo sein Arm ist und dass er nach Rostock zum pullern wollte.
Mutti saß lange bei Vati, massierte seinen Rücken und hörte ihn fragen, wo sein Vater war. Im Hintergrund spielte das Radio, das wir aus der Küche hierher gebracht hatten, damit Vati ein wenig Musik und Aktuelles hören konnte. Mutti hatte Angst davor, wenn er nicht mehr sein wird und sagte, wenn er doch einfach so bleiben könnte, dann wüsste man, dass er da ist und sie wäre nicht allein. Rational war ihr klar, dass das ein unzumutbarer Wunsch war, aber die Hoffnung führte zu solchen Äußerungen, um den Schmerz zu überstehen und die Angst wegzudrücken. Sie hatte Angst, dass Vati nicht mehr da ist und niemand mehr da ist.
Was bin ich froh, dass wir über all diese Dinge redeten.
Ich hatte noch gar nicht erwähnt, wie die Nacht für Vati mit Schlaftablette war. So wie wir es verstanden, und eigentlich auch das allgemeine Verständnis hinsichtlich der Wirkung eines solchen Medikaments ist, sollte die Schlaftablette für ausreichend Schlaf gesorgt haben. Nicht lange, nachdem Vati uns noch zu geprostet hatte am gestrigen Abend,  versuchte er, sich das T-Shirt vom Leibe zu reißen und hatte schon seit längerem immer wieder kurze Krampfanfälle. Die Szenen waren grotesk und auch seine dazu gehörige Mimik. Wir hatten den Eindruck, dass er sich die Haut vom Leibe reißen wollte. Er war unruhig, deckte sich in der letzten Nacht immer wieder ab, warf sein Bein über das Bettgerüst, spielte mit seinem Fuß mit einem Scharnier an Fußende des Bettes. Kurzum das Schlafmedikament brachte nicht den gewünschten Effekt.
Heute Morgen hatten wir dann mit Frau H. darüber gesprochen und sind überein gekommen, ein Rezept für Morphin zu forcieren, damit Vati mehr Ruhe haben konnte.
Frau H. hatte mit den Ärzten über die letzte Nacht und unsere Beobachtungen gesprochen.  Sie berichtete, dass wir insgesamt drei Tage das Medikament verabreichen sollten, damit es wirkt. Der Körper müsse sich erst einmal daran gewöhnen.  Nun ja, selbst dem Laien war klar, dass ein Schlafmedikament entweder sofort wirkt oder nicht. Wir waren doch relativ empört, hatten aber keine Wahl. Und damit begann eine weitere furchtbare Nacht für unseren Vater.
Sie begann nach der abendlichen Pflege und mit dem Einnehmen der Schlaftablette, die wir bereits zerdrückt und in etwas Flüssigkeit gemischt hatten. Unsere Fürsorge und das Vorbereiten, Vati betten, ihn drehen, ihn aufsetzen, mit ihm sprechen hatten wir ebenfalls per Video aufgenommen. Als wir ihn im Bett drehten sagte er immer wieder ‚Ist gut … ist gut ... ist gut‘.
Vati konnte heute nicht mehr aus dem Glas trinken (einem Schnapsglas) und ‚Prost‘ sagen. Wir mussten das Medikament in eine Spritze aufziehen und ihn in den Mund geben. Was musste er gedacht haben, als wir ihn so behandeln mussten? Nachdem das getan war, und Vati neu gelagert war im Bett, ergriff er Gerlind’s Arm. Die Konversation, die er mit ihr führte war geprägt von seiner Frage ‚Wie kannst Du so herzlos sein? Warum bringst Du mich nicht in mein Bett? ‘ Immer wieder versicherte sie ihm, dass wir alles taten, seinem Willen zu entsprechen, dass aber auch das Grenzen hatte und wir nicht mehr tun konnten.
Ich hatte wirklich Sorge, da wir immer wieder diese Fragen und Vorwürfe von ihm hörten, dass er in Unfrieden gehen würde. Das Vati dachte, wir hätten ihn nicht unterstützt. Vati hatte sicher auch wahrgenommen, dass wir die Pflege gemacht hatten und er hatte sich unendlich schlecht dabei gefühlt, dass wir das für ihn machen mussten (seine Sichtweise). Trotzdem seine Fragen und Sätze trafen ins Mark, insbesondere nachdem wir seit Tagen alles taten, um es ihm so angenehm wie möglich zu machen. Dabei war eine Verzweiflung aufgekommen, weil er es nicht so verstanden hatte, sondern eben eher die Sorge, dass er unsere Grenzen nicht verstanden hatte.
Nach dem Gespräch zwischen ihm und Gerlind war auch sie traurig, nicht mehr wissend, was sie sonst noch entgegnen konnte, um unseren Vater zufrieden zu stimmen.  Zum Ende diesen Tages waren wir dann noch einmal gemeinsam zu ihm und er rief dann auf einmal ‚Luft, Luft, Luft‘ Wir bekamen einen Schrecken und öffneten das Fenster, um frische und kalte Luft zu zu fächern. Er rang nach Atem und wir blieben bei ihm  solange bis er etwas ruhiger wurde. Eine halbe Stunde später war er wieder sehr unruhig, begann sich hin und her zu wälzen im Bett, hatte Schmerzen, und versuchte sich, wie letzte Nacht schon, die Oberkleidung vom Leib zu reißen.
Um Mitternacht stöhnte und wimmerte er, er schlug um sich. Seine Arme fielen mit aller Schwere auf die Kanten des Bettgerüstes. Wir versuchten, ihn zu beruhigen. Er sagte immer wieder ‚Macht Schluss, nehmt den Kopf ab‘!
'Und WARUM?'
Um 5.30 Uhr entdecken Gerlind und Mutti, dass das Bett komplett und dass es auch unter dem Bett nass war. Vati war nicht ansprechbar, er reagierte nicht auf unseren Kontakt. Wir wussten nicht, wie wir Vati unter diesen Umständen eine neue Windel anlegen und wie wir das Bett neu beziehen konnten. Wir wollten ihn aber auch nicht bis um 9:00 Uhr so liegen lassen. Also riefen wir die Pflegebienen an und baten darum, dass sie früher kommen. Natürlich war uns klar, dass wir nicht die einzigen Klienten des ambulanten Pflegedienstes waren und auch andere zu dieser Zeit versorgt werden mussten. Unser Glück jedoch war, dass wir einen Pflegedienst hatten, der das Unmögliche möglich machte. So kam Frau H. bereits gegen 6:00 Uhr und machte alles wieder frisch.
Vati war wieder erschöpft nach der gründlichen und warmherzigen Pflege. Er fragte heute immer wieder ‚Warum? ‘, verwies auf seinen letzten Willen und war sicher immer mehr verzweifelt, dass er leiden musste. Sicher war es ihm auch unangenehm, uns zu belasten. Natürlich war es eine psychische, emotionale und auch physische Anstrengung, die wir jedoch nicht als Belastung empfanden wünschend, dass alles bald vorbei ist oder unser Vater irgendwo anders versorgt würde. Wir waren froh, dass wir bei ihm sein und all unsere Liebe mit ihm teilen konnten. Seine Fragen konnten wir auch heute nicht beantworten, versuchten immer wieder, Vati zu versichern, dass wir alles taten und begannen ihn zu ermutigen, loszulassen.
Irgendetwas schien ihn zu halten. Keiner konnte uns das beantworten, die Angst, in das Ungewisse zu gehen, die Angst, uns zu verlassen und uns alleine zu lassen, oder das Warten auf Thomas, der nächste Woche kommen wollte. Vielleicht wartete Vati wirklich darauf, dass die ganze Familie komplett war.  Wie gesagt, all diese Gedanken sind reine Spekulation.
Vati hatte starke Schluckbeschwerden, so dass wir begannen ihn mit Wattestäbchen Wasser auf die Lippen zu tröpfeln, wenn er nicht anders trinken wollte. Das ging sowieso nur, wenn er aufrecht saß. Wir hatten ihm auch ein bisschen Bier auf die Lippen getupft. Ob er den Geschmack noch differenzieren konnte, wussten wir nicht.
Der Tag verging mit all dem bereits Geschilderten, die Atmosphäre begann sich irgendwie zu ändern. Nachdem die letzte Nacht wieder nicht ruhiger war für Vati hatte ich dann den Arzt heute angerufen. Vielmehr bin ich zur Ärztin durchgestellt worden.
Diese Ärztin machte mich bei der Anrede auf den Dr. Titel aufmerksam und bat darum, als solche angesprochen zu werden. Ich dachte, ich muss durch das Telefon hüpfen und konnte gerade noch zu meinen Sinnen kommen und mich erinnern, dass es hier nicht um mich ging. Dennoch gab auch ich meinen beruflichen Hintergrund deutlich zu verstehen und bekam die ‚Erlaubnis‘ auf die Anrede mit Dr. zu verzichten. Eine absurde und unprofessionelle Haltung, zumal es hier um Leben und Tod ging. Ich konnte nicht fassen, wie borniert diverse Berufsgruppen auf ihren Titel beharrten, und damit eben nur auf sich selbst bezogen waren. Es war einfach nur widerlich! Egal, ich setzte durch, dass wir ein Rezept für Morphin erhielten. Einerseits eine Erleichterung, andererseits war uns klar, dass damit ein Einschlafen unseres Vaters nicht mehr in weiter Ferne war. In Tränen und vielen Gesprächen hatten wir uns immer auf das Interesse und Wohlbefinden unseres Vaters konzentriert.
Wir nutzten jede Minute, um bei Vati zu sitzen und bei ihm zu sein. Er war kaum ansprechbar und um die Mittagszeit hatten wir dann das Bett in die Mitte geschoben, die Bettgerüste herunter gelassen und uns zu ihm ins Bett gesetzt. Vati spürte uns und begann immer wieder ‚TSCHÜSS‘ zu sagen. Immer und immer wieder, so dass wir für einen kurzen Moment dachten, dass er in diesen Augenblicken von uns gehen würde.
Wenig später hatte Mutti sich dann ganz zu Vati ins Bett gelegt und mit ihm ein letztes Mal so nahe zusammen gelegen. Ein rührendes Bild, das Gerlind und ich beobachten konnten. Wir ließen sie alleine und wünschten beiden so sehr, dass sie gegenseitig ihre Nähe spüren.
Ich hatte Thomas in Australien angerufen und er hatte dann Vati noch einmal alles Gute gewünscht. Wir wussten nicht, ob es das letzte Mal sein würde, dass Thomas zu unserem Vater sprechen und ihm alles Gute wünschen konnte.
Später am Nachmittag wieder Fragen ‚Wer soll sie aufhalten? Luft! Ich muss pullern! Schaltet ab! ‘ . Ralf saß neben seinem Bett, wir alle waren erschöpft und traurig, wissend, dass die Spritze heute Abend bereits dazu führen kann, dass Vati immer weniger ansprechbar sein wird. Wir ermutigten Vati immer wieder, loszulassen und zu gehen, wenn er gehen muss.
Wir hatten unserem Vater noch nicht gesagt, dass er am Abend eine Morphinspritze bekommen würde, taten dies dann, als Frau H. zur Pflege am Abend kam. Er war ganz ruhig, als Gerlind ihm von der Spritze erzählte, so als ob er seine Ohren spitzte. Es war grausam. Gerlind fragte ihn, ob er Angst hat und er nickte. Unser Magen drehte sich und als wir ihn danach alleine im Zimmer ließen, vernahmen wir ein quietschendes Geräusch, Vati wiegte sich im Bett. Möglicherweise hatte er Angst und tat dies, um sich zu beruhigen. Später stellten wir fest, das Quietschen vom schweren Atmen kam, da sich das ganz Bett beim Ausatmen bewegte.
Frau H. erklärte uns noch das Prozedere und was sie nun alles machen würde. Sie musste Blutdruck messen, der erstaunlich gut war! und sprach Vati gut zu. Frau H. versuchte auch uns zu beruhigen, und zu versichern, dass Vati nicht gleich sterben würde.
Um 20.43 setzte sie die Spritze in den Bauch und wir alle sahen zu. Wir hatten auch diesen Abend und diese Nacht immer wieder zu Vati geschaut, und hofften, dass er eine ruhigere Nacht haben würde. Kurz vor Mitternacht schlief er noch unruhig.
'Der letzte Atemzug'
Während Vati eine etwas ruhigere Nacht verbracht hatte, und wir beinahe stündlich nach ihm gesehen hatten, kam die Nacht mit jeder Minute dem Morgen entgegen.
Die Pflegebiene schaffte es am Morgen, Vati zu waschen, ihn zu drehen, ihn zu rasieren und ihm Wasser zu reichen. Wie jeden Morgen der letzten zwei Tage standen wir drum herum und beobachteten jeden Bewegung, jeden Handgriff, jede Regung, jede Mimik und jede Gestik. Wir wollten keine Zeit verpassen.
Während der Morgenpflege bekamen wir dann auch noch ein paar Tipps von Frau H. bezüglich des Wechselns der Einweghose, zum Drehen und Lagern im Bett aber auch wie man den Speichelfluss anregen kann und auch welche Tinktur helfen könnte, unserem Vater etwas Geschmackliches zu reichen. All das lernten wir an diesem Morgen und waren froh über die hilfreichen Anweisungen der Pflegefachkraft.
Nach der morgendlichen Pflege war unser Vater wie an den anderen Tagen erschöpft und drehte sich sofort wieder auf die Seite zur Wand hin. In dieser Position lag er den ganzen Tag und war nicht davon weg zu bewegen.
Wir waren wohl abwechselnd und auch zusammen so oft bei Vati im Zimmer an seinem Bett. Wir wollten ihm nah sein, mit ihm kuscheln und auf ihn aufpassen. So hatten wir jeder auch noch einmal ganz spezielle Momente mit Vati erlebt. Zu mir hat er ganz leise gesagt ‚Hilf mir‘ und ich konnte seine Hand halten. Mutti erzählte, dass er zu ihr sagte …Gerlind erinnert sich an …Zu mir sagte er am Morgen ‚Hilf mir‘
In Wasser getränkte Wattebällchen halfen, ihm ein wenig Flüssigkeit in den Mund zu geben. Eine mit etwas Honig angereicherte Tinktur sollte ihm etwas Geschmack geben. Unser Streicheln sollte ihm Nähe und Wärme geben. Von diesen Handlungen war der ganze Tag bestimmt und immer wieder waren wir konfrontiert mit Vati's Qualen und unserer Hilflosigkeit.
Am Nachmittag kam Besuch, der entsetzt und traurig war. Keiner von Mutti's und Vati's Freunden an diesem Tag sollte ahnen, dass es das letzte Mal war, unseren Vater gesehen zu haben. Wir hatten darüber gesprochen, ob es besser wäre, keinen Besuch zu Vati zu lassen. Immerhin wurde er in einer sehr sensiblen Situation angetroffen. Sprachlos, wehrlos, teilweise entblößt und in Einweghosen. Ich war besorgt darum und hatte kurzzeitig das Gefühl, dass unser Vater vorgeführt wird. Auf der anderen Seite sollten engste Freunde und Verwandte das Recht haben, ihn zu sehen. Und auch Vati hat das sicher gespürt. Er war erschöpft vom Kommen und Gehen.
Unsere Berührungen wie das Streicheln über seinen Kopf sollten ihm Schmerzen verursachen. An diesem Tag gab er zum ersten Mal zu, dass er Schmerzen hatte. Bis dahin verneinte er stets, aber sein ‚AUA‘ Rufen am Tag und in der Nacht, nicht ständig, sprach eine andere Sprache. Er wollte uns sicher nicht noch mehr Sorgen bereiten. Seine gesamte Körpersprache drückte Schmerzen aus, die Bewegungen seiner Arme, das teilweise Krampfen und Verkrampfen mussten ihn unglaublich angestrengt haben.
Als all der Besuch weg war, gingen wir zu Vati, um bei ihm zu sein. Wir schafften es sogar, ihn zu drehen und sahen, dass das Bett total nass war. Er war außerdem vollkommen durchgeschwitzt, da er den ganzen Tag schon in dieser einen Position lag. Ein trauriger Anblick bot sich uns; Vati’s Augen waren schon den ganzen Tag so milchig und die körperliche Schlaffheit hatte sich noch mehr verstärkt.
Gerlind und ich drehten Vati im Bett und begannen, ihn frisch zu machen. Am Morgen hatten wir ja noch ein paar Handgriffe gelernt, um auch eine neue Einweghose anlegen zu können. Mutti wusch Papsi und dann richteten wir ihn im Bett auf, so dass er auch mal in eine andere Position kommen konnte.
Carolin und Francie waren den ganzen Nachmittag schon hier, wohl nicht ahnend, was sie im nächsten Moment erleben sollten. Wir alle waren unglaublich ruhig an diesem Abend und froh, Vati in eine andere Lage gebracht zu haben. Wir streichelten ihn und sprachen mit ihm. Und dann gaben wir ihn etwas zu trinken. Er wollte trinken und so waren wir alle um ihn, als er das letzte Mal etwas Flüssigkeit bekam.
Entsetzt mussten wir mit ansehen, wie Vati nicht mehr schlucken konnte, er bäumte sich auf, Gerlind half, dass Schlucken zu unterstütze. Alles half nichts. Er atmete sehr schwer, seine Brust hob und senkte sich ebenso schwer. Mutti war außer sich und fragte, ob er jetzt ins Koma fällt. Ich entgegnete, dass er stirbt. Die letzten Momente seines Lebens standen wir um ihn, hielten ihn, sprachen zu ihm und sagten ein letztes Mal TSCHÜSS!
Endgültigkeit
Gegen 19.30 Uhr verstarb unser lieber Vater in unseren Armen. Wir Frauen, seine Frauen, waren alle um ihn. Carolin hatte es noch aus Berlin geschafft und einige wenige Zeit bei ihm sein können.
Der Tod hatte sich schon einige Tage zuvor Zugang verschafft, und wachte über unseren Vater. Mit diesem Gedankenbild war ich seit einigen Tagen beschäftigt und irgendwie hat es mir geholfen, Vati gehen zu lassen. Hatte ich doch die Hoffnung, dass der Tod ihn liebevoll mitnehmen würde.
Von nun an war es endgültig. Unser Vater war von uns gegangen und würde niemals wieder zurückkehren.
Abschied
So nahmen wir in Tränen und Liebe Abschied auf unsere besondere Art.
Die letzte Wäsche
Nachdem der Totenschein ausgeschrieben war und unsere Mutter dem Arzt zu verstehen gab, dass eine Obduktion nicht in Frage kommen würde, konnten wir uns endlich wieder dem Abschied widmen.
Gemeinsam mit der Pflegebiene Frau H. hatten wir, vor allem Gerlind, unseren Vater noch einmal gewaschen, das Bett frisch bezogen und dabei immer wieder mit ihm gesprochen. ‚Ach Papsi, ach Capsicum, ach Rolfi, wir können es nicht fassen und sind unendlich traurig‘.
Sein Rücken war noch ganz warm, während der Kopf bereits kalt war.
Mutti hatte schöne Sachen für herausgesucht, die Vati auf seiner letzten Reise tragen sollte. Darauf waren wir gar nicht vorbereitet, doch fanden schnell das Passende.
Vati hatte sich in seinem Aussehen über die letzten Wochen stark verändert. Er war abgemagert, und manchmal trauten wir uns kaum, ihn anzufassen, da er so zerbrechlich wirkte. Sein Gesicht ähnelte seinem Onkel Otto, an den ich mich nicht erinnere, aber Mutti und Gerlind sagten das immer wieder.
Auf Rosen gebettet
Seit Tagen sah es im Wohnzimmer aus wie auf einem Friedhof. Wir hatten so viele Blumen geschenkt bekommen, die uns zu unseren Geburtstagen geschenkt worden waren.
Ich hatte schon lange den Eindruck, dass es wie auf einem Friedhof aussah, da Mutti die alle auch noch auf dem Fußboden aufstellte. So hatten mich der Eindruck und die damit verbundenen Vorahnungen nicht getrübt.
Nachdem Vati hübsch und frisch gemacht in seinem Bett lag, hatten wir die wunderschönen Rosen um ihn herum und in seine Hände gelegt. Er sah so friedlich aus und irgendwie auch erlöst.
Seine Augen hatte er nun für immer geschlossen.
Wir kamen alle zusammen, Francie und Carolin, Gerlind und Ralf, Mutti und ich, Tante Helga und Onkel Rolf, um auf Vati mit einem Malteser, seinem Lieblingsschnaps, anzustoßen.
Jeder für sich hatte im Anschluss ausreichend Zeit, noch einmal bei Vati zu stehen, ihn zu streicheln, zu küssen, anzufassen, mit ihm zu reden, ihm Frieden zu wünschen und Abschied zu nehmen.
In aller Stille
Und so brach die letzte Nacht an, in der wir, Mutti, Gerlind und ich, zusammen waren. Vati lag auf Rosen gebettet in seinem Arbeitszimmer und wir lagen neben ihm im Schlafzimmer.
Wir waren froh, dass wir uns dafür entschieden hatten, Vati noch eine Nacht bei uns zu behalten. So hatten wir abwechselnd, oder auch mal alle zusammen, immer wieder zu ihm hereingeschaut. Wir konnten nicht von ihm lassen. Die Nacht war eine sehr friedliche und ruhige, aber auch schmerzvolle.
Der Morgen danach
Kalt erwischte es uns am Morgen, denn nichts hatte sich geändert seit gestern. Vati war tot. Unsere Hoffnungen auf einen grausamen Traum starben mit ihm, und unser Schmerz hatte die Kontrolle übernommen.
So kamen wir alle noch einmal zusammen, auch Thomas Eltern kamen vorbei.
Die innere Anspannung stieg mit dem Vergehen jeder Sekunde. Um 10.00 Uhr sollte das Bestattungsunternehmen kommen und Vati abholen.
Mir, und ich denke, uns allen, drehte sich der Magen. Kalte Hände und Angstschweiß waren Ausdruck von Herzrasen, Magenschmerzen und tiefster Trauer.
Die letzte Reise
Der ständige Blick aus dem Fenster begegnete dem Wagen, der langsam in die Straße einrollte. Jetzt war der Moment gekommen und unser Vater wurde abgeholt.
Der Bestattungsunternehmer war sehr behutsam und einfühlsam. Nachdem er und sein Mitarbeiter genau überlegt hatten, wie sie Vati im Sarg betten wollten, wie dieser im Flur aufgestellt sein musste, trugen sie Vati in den Sarg.
Als sie Vati aus dem Bett nahmen, war ich erschrocken, wie starr er war. Ich hatte überhaupt nicht über die Leichenstarre nachgedacht und es traf mich vollkommen unvorbereitet, zu sehen, wie steif Vati war und damit auch zerbrechlich.
Wunderschön eingebettet im Sarg und auf Rosen, hatten wir noch einmal Zeit, Abschied zu nehmen. Wir alle werden diese Bilder wohl nie vergessen, die sich uns in den letzten Stunden geboten hatten.
Und dann nahmen sie Vati in ihre Obhut und trugen ihn aus seiner so innig geliebten Wohnung, dem Ort, an dem er sich so wohl mit Mutti gefühlt hatte.
Leise und langsam rollt der Wagen von dannen und wir stehen in Tränen.
Jeder für sich.
Bestattungsformalitäten
Wenn man nicht an Zufälle glaubt, dann kann man nur dem Schicksal glauben. Wir hatten bereits bei anderen Bestattern in der Stadt letzte Woche Termine gemacht, um einen Eindruck von deren Service etc. zu bekommen. Die gemachten Termine hielten wir jedoch nicht ein und sagten beide ab.
Wir entschieden uns stattdessen für ein weiteres Bestattungsinstitut, von dem wir bisher nur Gutes gehört hatten. So war der Termin mit dem Bestatter am Samstag bereits vor Vati’s Ableben gemacht worden.
Es sollte alles zusammenpassen und so saßen wir, nachdem Vati abgeholt worden war, ca. eine Stunde später beim Bestatter, um jedes noch so kleine Detail so gut wie möglich zu besprechen.
Wir hatten uns Wochen zuvor bereits eine Urne aus Walnussholz angesehen und den Bestatter gebeten, diese zu bestellen. Er tat wirklich alles, was wir wollten, und er wunderte sich sicher hier und da über unsere Wünsche.
Gerlind nutzte die Gelegenheit, um über Alternativen wie Einäscherung im Ausland und Aufbewahrung der Urne im eigenen Zuhause, zu erfragen. Die Antworten waren sehr informativ und ausführlich. Heutzutage kann man sich aus der Asche sogar einen Diamanten anfertigen lassen. Eine schöne Alternative, aber doch sehr kostspielig.
Während unseres Gespräches sah Gerlind unter Mutti’s Stuhl etwas schimmern und dachte, dass darunter ein Diamant liegen würde. Sie traute sich nicht, dem nachzugehen und beließ es bei dem Gedanken. Später bemerkte Mutti, dass sie ihren Anhänger von der Kette vermisste und uns war klar, dass der vermeintliche Diamant unter dem Stuhl nichts anderes als Mutti’s Anhänger war. Zum Glück erinnerte Gerlind ihre Entdeckung und Mutti bekam ihren Anhänger wohlbehalten zurück.
Unter Berücksichtigung, dass Thomas erst am kommenden Dienstag kommen würde, und wir unseren Vater noch einmal sehen wollten, legten wir den Beerdigungstermin für den 5. November 2010 fest.
Am Ende des Termins beim Bestatter hatten wir ein straffes Aufgabenpaket, das wir abarbeiten mussten. Blumen, Texte für die Zeitung, Texte für Trauerschleifen, Foto, Trauerredner, Ort zum gemeinsamen Zusammensein nach der Trauerfeier und Musik für die Trauerfeier okkupierten die nächsten Tage und lenkten manchmal ein wenig ab vom Verlust und Schmerz.
Noch einmal sehen
Thomas kam am Dienstag, 2. November 2010, endlich in Deutschland an. Er war zutiefst betroffen und traurig, auch darüber, dass er unseren Vater nicht mehr lebend gesehen hatte. Ein wenig Trost war, dass er zumindest noch am letzten Lebenstag unseres Vaters mit ihm per skype kommunizieren konnte. Wenn auch einseitig, da Vati nicht mehr sprach, konnte Thomas ihm zumindest eine gute und friedvolle Reise wünschen.
Währenddessen erinnere ich ein skype Gespräch, in dem Vati einmal zu Thomas sagte, dass er stolz auf ihn sei. Das war sein Abschied von Thomas.
So sind wir, Gerlind, Thomas und ich, am 3. November, Mittwoch, am Abend noch einmal zum Bestatter gefahren, um in aller Ruhe bei Vati zu sein. Wir hatten kleine Flaschen Malteser mitgenommen und auf Vati angestoßen. Mutti und auch Ralf wollten nicht mehr mitkommen. Mutti hatte Angst, dass Vati zu entstellt sein würde. Sie wollte ihn so in Erinnerung behalten, mit dem Bild vom letzten Freitag.
Klassische Musik untermalte unser Zusammensein, Tränen kamen so schnell, dass wir sie kaum bändigen konnten. Aber auch ein Lachen kam über unsere Lippen, als wir Papsi zuprosteten.
Er sah wunderschön aus. Verändert, wieder etwas fülliger im Gesicht, friedvoll und kalt. Wir küssten seine Stirn, berührten seine Hände und atmeten jede Sekunde des Zusammenseins ein.
Einen kleinen Engel hatte ich bereits in Vati’s Sakkotasche versteckt, als er von zuhause abgeholt wurde. Heute legte Gerlind noch die Kappe vom Malteserfläschchen dazu.
Jetzt gab es im jetzigen Leben definitiv kein Wiedersehen mehr.

Der Trauerredner
Formale Erledigungen nahmen kein Ende und auch die Vorbereitungen für die Trauerfeier bzw. Urnenbeisetzung hatten unsere Tage immer noch fest im Griff.
Am 1. November trafen wir den Trauerredner in der Wohnung unserer Eltern. Mit einiger Anspannung und Neugier blickten wir auf diesen Termin am frühen Abend.
Wir hatten von Vati noch die Seiten, die er vor ca. 2 Wochen schrieb und sein Leben in Etappen beinhaltete.
Der Trauerredner war professionell distanziert und zunächst nur interessiert an Vati’s Lebenslauf.  Für das Zwischen den Zeilen, unser Erlebtes oder das, was Vati wirklich wichtig war, hatten wir wenig Zeit und Gelegenheit auszutauschen. So hatte ich dann im PC von Vati alle notwendigen Lebenslaufdaten gefunden und vorgelesen. Dann gingen wir über zu Vati’s Hobbys. Und aus Vati’s täglichem Fahrradfahren wurde dann auch die Liebe zur Natur mit eingearbeitet. Wir mussten schmunzeln und konnten nicht wirklich sagen, dass unser Vater besonders naturverbunden gewesen war. Im Nachhinein macht diese Verbindung vielleicht doch Sinn, denn er hatte auch immer die Enten gefüttert und einen „Schnack“ besonderer Art mit denen gehalten. Das hatten wir dem Trauerredner aber nicht erzählt.
In Vati’s letztem Schreiben fanden wir dann auch ein paar persönliche Zeilen:
„ … eine hervorragende Komposition … später durch Arbeitslosigkeit – meine Basis bei Ralf und Gerlind, einem kleinen Handwerksbetrieb mit Zahlen zu beleben … Wir liefen zusammen gut rund …In diesen Jahren viel mit intelligenten Kindern, meinem Ralf, meine Frau – liebste Trudi – verbracht … Viele, viele schöne Stunden in Mühl Rosin, Lubmin, Tirol, schönes Australien verbracht. Wir haben unser Leben viel genutzt. … Euch sei das Leben für Euch trotzdem weiterhin schön. Herzlichst alles Gute. SORGT MIR FÜR MEINE SCHÖNSTE UND FÜR EUCH. Küsse. ES WAR SCHÖN MIT EUCH …“
So viel habe ich geschrieben, damit auch eine besondere Distanz zu meiner Trauer gehalten und aber auch irgendwie eine besondere Nähe dazu geschaffen. Beim Schreiben vorhergehender Zeilen überkommen mich die Tränen.
Nach einem eher holprigen Beginn des Gesprächs mit dem Trauerredner fanden wir dann doch einen Faden und arrangierten uns damit, dass er nicht alles in seiner Trauerrede aufnehmen konnte.
Eine passende Musik für die Trauerfeier zu finden, war nicht so einfach. Tage zuvor hatten wir viel überlegt und erkannt, dass wir Vati’s Musikgeschmack gar nicht kannten. Mutti wollte, dass wir ein Lied von Gurrumul, einem australischen blinden Aborigini auswählen, und wir fanden eines, welches zum Abschied passte. Außerdem nahmen wir ‚Hallelujah‘ in der Version von k.d. Lang sowie den Cats song ‚Erinnerung‘, gesungen von Angelika Milster. Als wir dem Trauerredner, die bereits auf seiner CD gebrannte Musik vorspielten, bemerkte er ganz trocken, dass ihm das Lied von Gurrumul nicht gefiel.  Wir fanden diesen Kommentar unangemessen, verzichteten am Ende auf dieses Lied, da nur zwei Lieder gespielt werden konnten.
Die Trauerfeier
Zwei Wochen waren vergangen seitdem Vati gestorben war. Heute war der Tag des großen Abschieds, auf den wir uns alle so gut wie möglich vorzubereiten versuchten.
Der Regen hatte sich seit Tagen bereits Platz geschaffen und die Sonne vom Himmel verdrängt. Unsere Sorge, dass es auch am Tag der Urnenbeisetzung ununterbrochen regnen würde, war durchaus berechtigt.
So brach der Tag an, die Nacht hatte sich verabschiedet und der Regen hatte immer noch alle Macht über den Himmel.
Angekommen am Friedhof begann der Regen aufzuhören, die Wolken zogen und hier und da waren ganz kleine blaue Himmelsfetzen zu sehen.
Die Türen zur Feierhalle öffneten sich und am Ende stand die wunderschöne Urne mit der Asche unseres Vaters da. Wir zögerten und schritten langsam auf die Urne zu. Gerlind und ich hielten Mutti, die ihre Tränen nun nicht mehr kontrollieren konnte. Das Bild von Vati, das Carolin in A3 Querformat entwickeln lassen hatte, stand fest neben der Urne. Ein letzter Gruß unseres Vaters, seine Hand hebend und seitlich auf uns blickend, war an uns gerichtet. Sofort waren wir in Kontakt mit ihm. Das Bild wurde im Mai 2010 bei einem Familienausflug an der Ostsee gemacht und wir hatten uns so oft gefragt, ob es Vati zu dieser Zeit schon nicht mehr so gut ging, wir nur nichts bemerkten. Wie auch immer, diese Aufnahme sollte diesem einen Zweck dienen und das wirkte so beeindruckend würdevoll. Heute hat sich dieses Foto in unseren Gedanken eingebrannt und steht bei jedem von uns zuhause.
Unglaublich viele Menschen hatten sich auf den Weg gemacht, um unseren Vater die letzte Ehre zu erweisen. Gerlind hatte über 100 gezählt. Wir alle waren überwältigt von dieser Anteilnahme; ob unser Vater das wohl gedacht hätte? Wir waren auch stolz, dass so viele Menschen adieu sagen wollten.
So begann die Trauerfeier mit dem Niederlegen von Blumen, welche sich wunderschön am Fuße der walnusshölzernen Urne, die unglaublich toll aussah, wie ein Meer ausbreiteten.
Beleidsbekundungen wurden erbracht und dann trat vollkommene Stille ein.
‚Erinnerung‘ wurde gespielt und unser Herz war dem Zerreißen so nah. Tränen schüttelten unsere Körper. Gedanken und Erinnerungen an unseren Vater verbanden uns so fest und stark mit diesem Moment. Sprechen konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr und waren froh, dass dies ein Trauerredner übernehmen würde.
Die Trauerrede half allen, an unseren Vater zu denken und zu hören, was er alles geschaffen hatte, was er mochte, was er schätzte, was ihm wichtig war und welche Personen zu seinen Liebsten gehörten. Vati’s Naturverbundenheit wurde selbstverständlich erwähnt und zauberte ein Schmunzeln in unsere Gesichter.
‚Hallelujah‘ untermalte die letzten Minuten der Trauerfeier und begleitete uns nach draußen.
Der letzte Gang
So wurde die Urne würdevoll zu ihrem Platz getragen und wir gingen hinterher.
Als die Türen sich öffneten und wir hinaus schritten, hatte der Regen immer noch aufgehört. Schweigend, langsam und von der Trauer überwältigt, gingen wir auf Vati’s letzte Ruhestätte zu.
Am Grab konnten wir die Urne noch einmal anfassen und fühlen. Dort lag unser Vater in Asche.
Und so sagten wir noch einmal ‚Ich hab dich lieb … Pass auf dich auf … Ruhe in Frieden‘.
Und dann wurde die Urne eingelassen.
1
Ade
In diesem Moment, es war wie im Märchen, öffnete sich der Himmel und die Sonne schien durch die Äste des Baumes, der  dem Grab unseres Vaters einen friedvollen Schutz gibt.
Freude strahlte in unsere Gesichter und für immer werden wir diesen Moment des Abschieds als den Besonderen in unseren Herzen und Köpfen behalten. Vati hatte das hellste Licht gefunden.
Später, nach dem Zusammensein mit Familie, Freunden und Bekannten, gingen wir noch einmal zum Grab.
Einen Malteser Prost auf Papsi, Rolfi, Capsium, Opa, Rolf. In Frieden sollst du ruhen!
Nachwort
Die letzten drei Wochen mit unseren Vater haben sich fest in unsere Erinnerung eingebrannt. Waren sie doch so unglaublich intensiv, nah und dicht. Schmerzhaft, traurig, qualvoll und manchmal auch lustig.
Mutti, Gerlind und ich waren rund um die Uhr im Einsatz, versuchend, unseren Vater jeden Wunsch von seiner Mimik und Gestik abzulesen.
All die Jahre, die wir eine komplette Familie waren, waren und werden präsent in unserer Erinnerung sein, unseren Vater gedenken und ehren.
Uns haben unglaublich viele Beileidsbekundungen erreicht, die uns im Umgang mit unserer Trauer und dem Abschieds­schmerz unterstützen. Wunderschöne Karten, Sprüche und herzliche Worte wurden sorgfältig gelesen und aufgehoben.
Wir hatten von meinem Arbeitgeber in Perth einen wunderschönen Blumenstrauß und eine Karte erhalten, an denen wir uns erfreuten. Für mich war das auch eine unglaubliche Anerkennung und für Mutti eine Überwältigung.
Ein langer Brief von den Nachbarn von Gerlind und Ralf sowie einem eingeklebten gedruckten Foto von Vati berührte unsere Herzen tief.
Ein Freund von mir, der am Grab unseres Vaters niederkniete und in einen besonderen Kontakt mit Vati gekommen war, konnte das Licht von der Sonne in einem Amethyst einfangen. Dieser Stein wird für immer bei Mutti sein und eine von vielen Erinnerungen in ihr wecken.
In der Erinnerung an die letzten Wochen wird uns auch die liebevolle Frau H., Pflegebiene, bleiben. Ihr soll hier noch einmal ein spezieller und besonderer Dank zukommen. Sie hatte nicht nur wie ein Profi gehandelt, sondern war so liebevoll und einfühlsam, nicht nur Vati, sondern auch uns in dieser schweren Zeit gegenüber. Wenn es auch nur 4 Tage waren, in denen wir sie kennen und schätzen lernen durften, kam es uns vor, als würden wir sie schon länger kennen.
Und nun? Die Zeit tut was sie kann, sie geht weiter. Grausam erreicht uns diese Erkenntnis jeden Tag. Es wird Nacht, es wird Morgen, der Regen geht und die Sonne kommt, der Wind umspielt die Wärme, das Wasser fließt den Bach herunter, die Mühlen des Alltags halten nicht an.
Auf unseren kleinen Kopfinseln bewegen wir uns Tag aus, Tag ein, hoffend, dass alles ein Traum war und schmerzlich erfahrend, dass das nun unsere grausame Realität ist.
Ein Lied, dass dieser Tag bei den Radiosendern hoch und runter gespielt wird, sorgt für außerordentliche Momente der Erinnerung.



Songtext (verkürzt) von http://lyrics.wikia.com/Unheilig:Geboren_um_zu_leben (http://lyricwiki.org)

Es fällt mir schwer
ohne dich zu leben,
jeden Tag zu jeder Zeit
einfach alles zu geben.
Ich denk so oft
zurück an das was war,
an jedem so geliebten
vergangenen Tag.
Ich stell mir vor
dass du zu mir stehst
und jeden meiner Wege
an meiner Seite gehst.
Ich denke an so vieles
seit dem du nicht mehr bist,
denn du hast mir gezeigt
wie wertvoll das Leben ist.

Wir war'n geboren um zu leben
mit den Wundern jeder Zeit,
sich niemals zu vergessen
bis in aller Ewigkeit.
Wir war'n geboren um zu leben
für den einen Augenblick,
bei dem jeder von uns spürte
wie wertvoll Leben ist.

Es tut noch weh
wieder neuen Platz zu schaffen,
mit gutem Gefühl
etwas Neues zuzulassen.
In diesem Augenblick
bist du mir wieder nah,
wie an jedem so geliebten
vergangenen Tag.
Es ist mein Wunsch
wieder Träume zu erlauben,
ohne Reue nach vorn
in eine Zukunft zu schau'n.
Ich sehe einen Sinn
seitdem du nicht mehr bist,
denn du hast mir gezeigt
wie wertvoll mein Leben ist.



Unter dem Stern der Waage wurdest Du geboren.
Im Licht des Vollmonds bist Du von uns gegangen.
Wir müssen das Loslassen von erst lernen!
Und deine endgültige Abwesenheit akzeptieren.
Trauer und Schmerz sind nun unsere Wegbegleiter.
In unserer Erinnerung.
Wirst du ewig sein!









So, nun Schluss!